Wie ich einmal dachte, die DDR wäre tot
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Polizisten, die zur politischen Aussprache in die Schule kommen – das weckt bei vielen älteren Ostdeutschen Erinnerungen. Ein bestimmter Typus verschwindet eben nie. In guten Zeiten hat er nur nichts zu sagen. Apropos: Von wunderbar leichten Zeiten handelt dieser Text auch
Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 36 min Lesezeit
Normalerweise erscheinen auf Publico persönliche, aber keine höchstpersönlichen Beiträge, also Texte in Ich-Form. Der Autor gehört nämlich zu einer Journalistengeneration, für die es sich nicht gehörte, in der ersten Person zu schreiben. Um davon abzuweichen, bedarf es guter Gründe.
Die Geschichte über die 16-jährige Schülerin in Ribnitz-Damgarten, die der Schulleiter aus dem Unterricht holte, um sie mit drei Polizeibeamten zu einem Aufklärungsgespräch im Rektoratszimmer zu führen, rechtfertigt die Ausnahme. Denn sie erinnert mich an meine Schulzeit. Das Richard-Wossidlo-Gymnasium in der mecklenburgischen Stadt sieht deutlich schicker aus als die Schulgebäude in der kleinen sächsischen Stadt, in denen ich in den achtziger Jahren mal lernte, mal nicht. Der Direktor in Ribnitz-Damgarten namens Jan-Dirk Zimmermann drückt sich vermutlich geschmeidiger und medienaffiner aus als die leitenden Pädagogen, die ich damals erlebte. Und selbstverständlich sehen die Polizisten heute anders aus, sie benehmen sich auch anders. Schließlich handelt es sich auch um ein anderes Land. Da ich beide kenne, kann ich die Unterschiede ganz gut beurteilen. Die Ähnlichkeiten allerdings auch. Ein bestimmter Typus Mensch bleibt zeit- und systemübergreifend erhalten. Abseits günstiger Bedingungen zieht er sich in Nischen zurück, in einem für ihn vorteilhaften Klima hingegen blüht er auf und neigt dazu, sein Einflussgebiet stark zu vergrößern. In Herrn Zimmermann, der übrigens gar nicht aus der Täterä stammt, sondern aus dem fernsten Westen, aus Aachen, erkenne ich bestimmte Figuren aus meiner Jugendzeit wieder. Und nicht nur Figuren. Die Geschichte aus Ribnitz-Damgarten bringt tief unten abgespeicherte Erinnerungen wieder nach oben. Mir kommt es in solchen Momenten vor, als würde mein früheres Leben in eine zweite Runde gehen, auf einem etwas anders (besser) ausgeschmückten Parcours, aber prinzipiell der gleichen Strecke. Das würde immerhin meine chronische Müdigkeit erklären.
Bevor es um die Zeit vor etwa vierzig Jahren geht, soll es hier schnell noch eine kurze Übersicht darüber gegeben werden, was sich in Ribnitz-Damgarten zutrug. Wie schon erwähnt, holte am 27. Februar 2024 der Direktor eine 16-jährige Schülerin der 9. Klasse mit Polizeibegleitung aus dem Unterricht. Es folgte ein Gespräch der drei Beamten mit dem Mädchen in Anwesenheit des Schulleiters. Den Anlass lieferte eine bisher anonym gebliebene Tippgeberin, die insgesamt acht Posts der Schülerin auf TikTok und Instagram mit Screenshots dokumentierte. Darunter befand sich ein Post mit dem Schriftzug ’nix yallah yallah‘. Ein anderer zeigt sie mit einem Kapuzenpullover mit dem HH-Logo der Marke Helly Hansen, einer norwegischen Firma, deren Kleidung Hunderttausende tragen. Irgendwo kommt die Zahl 1161 vor, angeblich ein Code für ‚Anti-Antifa‘. Genau das steht auch noch ganz uncodiert in ihrem Profil: „Anti-antifa“. Weitere Botschaften: „In Deutschland wird deutsch gesprochen“; „heimat freiheit tradition, multikulti endstation“. Nichts davon erfüllt irgendeinen Straftatbestand. Das sieht auch die Polizei nicht anders.
Durch seine Veröffentlichungen legt das Mädchen nah, dass sie keine Linken mag. Die muss aber auch niemand mögen. Was sie an Symbolik benutzt, lässt vermuten, dass sie in ihrem Antilinkssein relativ weit rechts steht. Aber eben nicht in einer Weise, dass es Polizei und Staatsanwaltschaft etwas angeht. In diesem Land finden immerhin auch Solidaritätsdemos für untergetauchte RAF-Mitglieder statt, andere können sehr selbstbewusst öffentlich die Kalifat- und Schariaherrschaft fordern. Alles in allem entspricht das Mädchen dem ebenfalls zeitübergreifenden Teenagertyp, der unbedingt das Gegenteil dessen vertreten will, was seine Lehrer und Politiker der Regierungsparteien gut finden (in Mecklenburg-Vorpommern sind das die SPD und die mehrmals umbenannte SED). Sechzehnjährige verfügen meist noch nicht über ein ausgefeiltes Weltbild; sie lassen sich eher von dem Reflex leiten, auf Knöpfe zu drücken, an denen Autoritäten das Schild angebracht haben: Drücken streng untersagt. Bis jetzt lässt sich nicht erkennen, warum sich der Schulleiter überhaupt bemüßigt fühlte, die Polizei zu holen. Dass die TikTok- und Instagram-Äußerungen des Mädchens unter Meinungsfreiheit fallen, hätten die Beamten auch am Rechner auf ihrem Revier feststellen können. Unklar bleibt auch, auf welcher Rechtsgrundlage das Gespräch mit der Schülerin stattfand. Der Innenminister meinte zunächst im Landtag, es habe sich um eine „Gefährderansprache“ gehandelt. Dafür gibt es in Mecklenburg-Vorpommern keine gesetzliche Grundlage. In anderen Bundesländern existieren entsprechende Regelungen; sie sehen allerdings vor, dass eine konkrete Gefahr von einer Person ausgehen oder Tatsachen vorliegen müssen, die eine Gefährdung der Öffentlichkeit erwarten lassen. Außerdem schreiben sie vor, dass Gespräche dieser Art mit Minderjährigen nur in Anwesenheit eines gesetzlichen Vertreters stattfinden dürfen.
Mittlerweile erklären Polizei und Schulministerium die eigenartige Konversation an der Schule zum „Aufklärungsgespräch“. Ein „Aufklärungsgespräch“ von Polizeibeamten mit einem Bürger, gegen den überhaupt nichts vorliegt, kennt die bundesdeutsche Rechtsordnung allerdings nicht. Schon gar nicht über dessen private politische Ansichten. Der Staat benahm sich mit dieser Aktion und anschließend in seiner Öffentlichkeitsarbeit, als die Sache in die Presse kam, nicht neutral, um es vorsichtig zu sagen. Wenn die Polizei verbreitet, die Jugendliche habe auf einem geposteten Foto ein Oberteil mit den eingestickten Buchstaben HH getragen und Journalisten damit inoffiziell darauf hinweist, das könne für „Heil Hitler“ stehen, dann entsteht ein anderes Bild, als wenn die Behörde nur erklärt hätte, sie trage auf einem Bild einen Helly-Hansen-Kapuzenpulli. Vor allem stellt sich die Frage, warum der Innenminister nicht einfach einräumte, hier sei wohl ein Polizeieinsatz ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, sondern herumtönte, das Mädchen sei ja schließlich nicht in Handschellen abgeführt worden, sie solle sich also nicht so haben.
In meinen sächsischen Kleinstadtzeiten herrschten wirklich andere Bedingungen. Um Verfahrensregeln scherte sich der damals realexistierende Staat von vornherein nicht. Seine Repräsentanten konnten also auch nicht dagegen verstoßen. Unbotmäßige Presseorgane und unkontrollierte soziale Medien störten nicht einmal punktuell. In der DDR gab es zwar eine unüberschaubare Vorschriftenfülle, aber eben nur für die Standardbürger, nicht für ihre Aufseher. Die einzige öffentlich bekannte Festlegung zur Arbeit der Staatssicherheit beispielsweise bestand in dem Gesetz über die Gründung des MfS aus dem Jahr 1950. Alles Weitere entschied das Organ selbst. So ging es vertikal durch den Staat. Natürlich stand nirgendwo, wie eine sogenannte Aussprache in der Schule formal zu laufen hatte, zu der ich genauso wie republikweit tausende andere irgendwie auffällige Schüler zitiert wurde. Es gab nur eine Grundkonstellation: Der Delinquent saß immer allein mehreren anderen gegenüber. Die Deutungshoheit über Gesprächsverlauf und -ergebnis lag immer bei ihnen. Dieses Überwältigungsprinzip scheint in Mecklenburg-Vorpommern immer noch bestens zu funktionieren.
Zum ersten Mal zitierte mich der Schuldirektor in der neunten Klasse zu sich und irgendeinem Dabeisitzer. Ich hatte aufgrund der damals in allen Schulen üblichen Ermahnungen wegen Schwatzens und allerlei anderer Dinge Ausweise einer von mir erfundenen Schülergewerkschaft gezeichnet, mit Logo, Stempel und allem Drum und Dran. Meine Gewerkschaft kämpfte unter anderem für zehn Minuten offizielle Kommunikationspause während der Unterrichtsstunde. Zugegeben keine brillante Leistung, aber für einen Fünfzehnjährigen auch nicht übermäßig albern. Ich liebte es, offiziell aussehende Dokumente und sogar Briefmarken zu zeichnen. Mein Werk fiel einem Lehrer in die Hände und – das hatte ich nicht bedacht – außerdem zeitlich zusammen mit den ersten Erfolgen der Gewerkschaft Solidarność im nicht mehr ganz so sozialistischen Bruderland Polen. Eine von Arbeitern organisierte Gewerkschaft verstand die Partei der Arbeiterklasse als konterrevolutionäre Kraft, in ihrer etwas verworrenen Dialektik noch nicht einmal zu Unrecht. Die DDR-Presse behandelte Polen als unzuverlässigen Staat, der, wie es heute heißen würde, abdriftete. Jedenfalls nahm der Schulleiter die Angelegenheit vollkommen ernst. Aussprachen besaßen natürlich nie den Charakter eines Gesprächs, sondern eines Verhörs. Was ich mir dabei gedacht hätte? Bei dieser Weltlage? Wahrheitsgemäß antwortete ich, ich hätte mir so gut wie nichts dabei gedacht. Es folgten ausführliche Hinweise auf die große Gefährlichkeit meiner Zeichnerei. Und: Nie wieder! Sonst könne ich das Abitur nämlich vergessen. Der Direktor gehörte übrigens nicht zu den Fanatikern. Er wollte hauptsächlich für sich selbst Ärger mit übergeordneten Kräften vermeiden.
An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich über zwei Bonuspunkte verfügte. Erstens hatte ich es einmal geschafft, bei einer Mathematikolympiade auf Kreisebene zu gewinnen. Eher aus Versehen und zu meiner Überraschung, mit niedriger Punktzahl und in einem schwachen Jahrgang, aber immerhin. Unsere Schule besaß einen Ruf wie Donnerhall bei Sportwettkämpfen; Mathe-Medaillen räumte nur sehr selten jemand ab. Diese Steigerung des Ansehens freute den Direktor. Außerdem bestand ich in der achten Klasse die Aufnahmeprüfung für die sogenannte Abendklasse an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo Jugendliche ab 14 einen Mal- und Zeichenkurs belegen durften. Das Etikett Künstler verschaffte mir eine Art Unzurechnungsfähigkeitsbescheinigung, also das, was man damals umgangssprachlich einen Jagdschein nannte. In der recht exotischen Kombination mit der Mathesache machte sich das gut. Deshalb und – wie der Direktor mir einschärfte – wegen meines jugendlichen Alters sah er mir die Gewerkschaftsgründung insofern nach, dass er meinen Wechsel an die Erweiterte Oberschule (EOS) nicht verhinderte. Der wackelte noch einmal heftig, als ich in einer Unterrichtsstunde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR anders einschätzte als das „Neue Deutschland“. Es gab wieder eine Aussprache. Verwarnung! An der Erweiterten Oberschule herrschte dann eine deutlich sorgfältigere politische Aufsicht. Die Schulleiterin war Gattin eines Politoffiziers. Ihre Hauptsorge bestand nicht darin, Schwierigkeiten mit höheren Stellen zu vermeiden. Sie wollte deutlich mehr als nur ihre Pflicht tun. Hier gab es eine schon deutlich verschärfte Aussprache, weil ich gesagt hatte – es ging um Spielzeugmodelle von NVA-Panzern und irgendwie auch um den gerade eingeführten Wehrkundeunterricht –, ich würde Kriegsspielzeug ablehnen (damals war ich pazifistischer als heute). In der erwähnten Aussprache belehrte mich der Staatsbürgerkundelehrer, die Bezeichnung laute „patriotisches Spielzeug“; wenn ich das als Kriegsspielzeug bezeichnete, würde ich behaupten, die NVA wolle Krieg und das sei westliche Propaganda. In diesem Fall schwallte er auch meine Mutter mit seiner Warnung voll, ich würde noch einmal große Schwierigkeiten bekommen.
Wobei: Weder der alte Schuldirektor noch die EOS-Direkteuse oder der Staatsbürgerkundewilli waren je so verrückt, die Polizei oder sonstige außerschulische Unterstützung heranzutelefonieren. Die nächsten ein- und zudringlichen Gespräche führten mehrere Autoritäten mit mir, um mich von einem dreijährigen Dienst in der NVA zu überzeugen. Warum diese Leute ausgerechnet mich zum Unteroffizier machen wollten, also den dafür am wenigsten geeigneten Menschen der Republik, erschloss sich mir nie. Bei dem ersten Gespräch dieser Art bekam ich mitgeteilt, wenn ich mich nicht verpflichtete, würde es aber schwierig mit einem Studienplatz. Im letzten lautete die Ansage, da ich meine Ansicht nicht geändert hätte, könne ich ein Studium eben vergessen – egal, welches Fach. Und eingezogen würde ich dann erst mit 27, „wenn Sie Frau und Kinder haben“.
Es gab in der DDR keine Verpflichtung, länger als 18 Monate bei der Armee zu dienen. Überhaupt existierten deutlich weniger formale Mitwirkungszwänge, als heute viele West- und später geborene Ostdeutsche glauben. Niemand musste zur Demonstration am 1. Mai erscheinen. Der Eintritt in die SED oder eine Blockpartei geschah freiwillig. Niemand musste heimlich der Staatssicherheit zuarbeiten. Für einen Direktor bestand keine direkte Pflicht, Schüler mit abweichenden Tendenzen zur Aussprache zu zitieren. Und selbst wenn er es tat, konnte er die Angelegenheit als Formsache behandeln. Er konnte aber auch dafür sorgen, dass der Schüler nicht zum Abitur zugelassen wurde. Der Staat verfügte über eine große Auswahl meist informeller Mittel, um die Lebenswege seiner Bürger zu beeinflussen. Die DDR-Bevölkerung teilte sich grob in diejenigen ein, die inbrünstig an die Richtigkeit der Ordnung glaubten; in den Typus, der die gebotenen Aufstiegschancen nutzte, ohne dafür eine Weltanschauung zu verinnerlichen, in die Durchwurstler, diejenigen, die sich ganz zurückzogen und in den kleinen und stark spitzeldurchsetzten Haufen der Oppositionellen. In meiner Abiturklasse lehnten es nur noch zwei andere Jungs ab, länger als 18 Monate zur Armee zu gehen. Viele in meinem Jahrgang traten schon mit 18 in die SED ein. Sie taten das, weil man das eben so machte, um nach dem Studium in Leitungsposten aufzusteigen. Politische Überzeugungen spielten bei ihnen kaum eine Rolle. Gesprächsweise stellte ich fest, dass ich offenbar als Einziger in der Klasse tatsächlich ein bisschen Marx gelesen hatte.
Eine Formulierung wiederholte sich in den Aussprachen immer wieder, nämlich die Versicherung der Aussprecher, sie würden sich große Sorgen um mich machen. Ich hätte doch Talente. Ob ich mir wirklich den Weg verbauen wolle? Diesen gallertigen passiv-aggressiven Wir-wollen-doch-nur-dein-Bestes-Tonfall, mit dem die Beamten nach Schilderung des Schul- und Innenministeriums in Ribnitz-Damgarten auf das Mädchen einredeten, kenne ich also aus eigener Erfahrung. Auch der überdauert offenbar Zeiten und Epochen.
Von dem, was die DDR an Mitteln und Möglichkeiten bot, um widerwillige Untertanen kleinzukriegen, lernte ich so gut wie nichts kennen. Noch nicht einmal den allerersten Kreis der verschiedenen Höllen. Es gab Jugendwerkhöfe für die Jüngeren, Gefängnisse für Ältere, den Armeeknast Schwedt für Soldaten, die aus der Reihe tanzten, es gab routinierte Zwangsernährung mit Kieferausrenken und Schlauch in den Magen, falls jemand auf die Idee kam, es als Insasse dieser Institutionen mit einem Hungerstreik zu versuchen. Diejenigen, die dieses volkseigene Schinderkombinat betrieben, gehörten zu den widerwärtigsten Erscheinungen, glaubten aber oder legten es sich zumindest so zurecht, dass sie damit dem höchsten Menschheitsglück dienten. Der Satz: „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ gehört auch zu den Wendungen, die alle angeblichen Geschichtsbrüche überstehen.
Wie gesagt, nichts von diesen Bösartigkeiten bekam ich mit. Ich konnte nicht studieren, das war alles. Ich arbeitete in verschiedenen Berufen, ab und zu verkaufte ich ein Bild. Mein Jagdschein half mir manchmal. Einmal, als ich im äußersten Westen des Berliner Ostens die Vorlandmauer (die Mauer vor der Mauer) an dem Stück Spree hinter dem Bahnhof Friedrichstraße zeichnete, kam ein Polizist und fragte, was ich da machen würde. Ich antwortete: Zeichnen, das mache ich öfter, und zeigte ihm mein Skizzenbuch. Er blätterte darin, gab es mir zurück und meinte: „Aha, Künstler.“ Erst später fiel mir auf, dass er das in fast dem gleichen Tonfall sagte wie der Gehilfe von Zahnstocher-Charly in „Manche mögen‘s heiß“, nachdem er in der Garagenszene die Instrumentenkästen von Jack Lemmon und Tony Curtis inspiziert hat und feststellt, dass sie wirklich nur Instrumente enthalten: „Musiker“.
Aus der Skizze machte ich eine Radierung.
Im Herbst 1989 arbeitete ich als Gärtner eines Künstlers in Leipzig, vermutlich als einziger Privatgärtner der ganzen Stadt. Von meinem Arbeitsplatz schaffte ich es ab Ende September bequem mit der Straßenbahn zu den Montagsdemonstrationen. Irgendwelche staatlichen Autoritäten, die mich deshalb in ihre Büros bestellen konnten, gab es in meiner Umgebung nicht mehr. Ab Ende 1989 begann ich, als Journalist für das „Sächsische Tageblatt“ zu schreiben. Auf einmal erwies es sich als vorteilhaft, weder an der Karl-Marx-Universität Journalismus studiert noch einer DDR-Partei angehört zu haben. Um die NVA war ich auch herumgekommen, während die meisten meiner Klassenkameraden dort drei ihrer Lebensjahre totgeschlagen hatten. Als einige von ihnen ihr eben angefangenes und jetzt abgewickeltes Gesellschaftswissenschaftsstudium verlassen mussten, bot mir die Zeitung eine Redakteursstelle an. Ich beklage mich nicht, ich beklage mich nicht (um eine zweite Lieblingsfilmszene zu zitieren).
Ich bestehe darauf, in der DDR nicht Opfer, sondern Täter gewesen zu sein. Ich lebte noch und sogar viel besser, als viele, die sich damals große Sorgen um mich machten, es für mich gern festgelegt hätten. Sie, die Tätärä, war tot. Jedenfalls für den Augenblick. Ich erlebte damals zusammen mit Leuten, denen es ähnlich ergangen war wie mir, die beste Zeit überhaupt, eine halkyonische Phase des Inruhegelassenwerdens. Jüngere glauben das womöglich nicht, aber es gab diese wunderbaren Jahre tatsächlich. Die völlig ungestörte Idylle innerhalb dieser Zeit begann am 9. 11.1989 und endete am 11.9.2001. Die einen Quälgeister, so dachten wir in dieser leichten Zeit jedenfalls, lagen endgültig begraben. Die neuen machten sich noch nicht bemerkbar. Dass die Mutanten der einen und die Strategen der anderen einmal eine Allianz bilden würden, wäre keinem von uns auch nur spaßeshalber in den Sinn gekommen. Eher, dachten wir, tanzt Helmut Kohl mit Brustwarzenpiercing auf der CSD-Parade in Berlin mit, als dass diese beiden jemals zusammenfinden.
Ich hätte es damals für genauso unmöglich gehalten, dass noch einmal eine von westdeutschen Freunden als ganz neu empfundene Zeit anbrechen würde, in der Ministerinnen erklären, auch Meinungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze müssten bekämpft werden; in der Personen Eingang in ein staatlich finanziertes Register finden, die denken, es gebe nur zwei biologische Geschlechter; in der sich der Inlandsgeheimdienst um die Bekämpfung von legalen politischen Ansichten kümmert, die er für staatsdelegitimierend hält, was laut Behördenchef schon bei nicht näher beschriebenen „Denkmustern“ beginnt. Ich hätte keinen Gedanken an die bloße Möglichkeit verschwendet, dass einmal nicht gewählte Personen auf EU-Ebene in einem freihändigen Verfahren festlegen würde, welche Meinungen in die Rubrik „schädliche Inhalte“ fallen.
Polizisten, die einen Bürger in Bayern auf seinem Grundstück in Gmund heimsuchen und eine Anklage gegen ihn, weil er zwei harmlose Plakate zur Verspottung führender grüner Politiker aufstellte? Noch 2022 hätte ich gesagt: Schlecht erfundene Dystopie. Und nicht nur 1990, auch 2015 und sogar noch 2020 hätte ich versucht, jedem die Befürchtung auszureden, in Deutschland könnte die Polizei ausrücken, um eine 16-jährige Schülerin, gegen die strafrechtlich nichts vorliegt, wegen ihrer politischen Ansichten unter Druck zu setzen.
Bei diesen Ansichten handelt es sich tatsächlich um kulturell rechte und nicht einfach nur bürgerliche Versatzstücke. Das sollte eigentlich gerade bei den Wohlmeinenden zu der Frage führen, warum Jugendliche, die ihre Lehrer und überhaupt die tonangebende Klasse heute triggern wollen, sich nicht mehr aus dem linken Fundus bedienen. Früher verstand sich das ja zumindest im Westen von selbst. (Und selbst im Osten fragten Dialektiker, siehe oben, warum der Staat im Sozialismus nicht wie von Marx vorausgesagt allmählich abstarb, sondern sich bis in den letzten Winkel ausdehnte.)
Darauf, also auf die erste der beiden Fragen, gibt es eine ziemlich naheliegende Antwort. In einer Zeit, da ein regierungsnaher Ethikrat die Rückkehr zur Planwirtschaft vorschlägt, in der die Präsidentin des Bundesgerichtshofs meint, der Kapitalismus müsse überwunden werden, in der eine Journalistin von Talkshow zu Talkshow zieht, um ihre Idee einer staatlich gelenkten Kriegswirtschaft zu bewerben, in der es zum medialen Mainstream gehört, Bewohner von zu großen Wohnungen und Aktiensparer zu Plünderungssubjekten zu erklären, besitzen Che-Guevara-Poster, Venezuelabegeisterung, Lenin-Sätze und Hammersichelaufnäher an der Jacke ungefähr den Provokationswert eines Lacoste-Poloshirts – von Bernie-Sanders-Zitaten gar nicht erst zu reden. Wer heute in diesem Alter verbotene Knöpfe drücken will, der äußert sich beispielsweise lobend über Javier Milei, zitiert das Urteil Johnny Rottens über die Linke oder übernimmt eben den im Netz aufgesammelten Spruch ‘multikulti endstation’ und ein paar andere Sätze und Symbole. Auch der ganz klassisch klassenkämpferische Einsatz für die bedrohten Arbeiter der Autozuliefererindustrie besitzt mittlerweile seinen Reiz.
Eine Neuntklässlerin wählt wahrscheinlich eher leicht kopierbares Material aus dem Netz, als sich mit Milei zu befassen. Aber je dichter Kirchen, Medien, NGOs und Politiker in ihrer Begeisterung für Wirtschaftslenkung und autoritär-progressive Öffentlichkeitskontrolle zusammenstehen und gegen rechts kämpfen, desto mehr schaut sich zumindest ein Teil der ganz Jungen nach irgendetwas um, was möglichst weit weg davon liegt. Je allergischer der politisch-mediale Komplex darauf reagiert, desto interessanter für alle, die das Bedürfnis nach Krawall verspüren. Manche Teenager lassen sich ganz gern von Mücken- auf Elefantengröße bringen. So, wie es immer den Direktorentypus von damals und heute geben wird, stirbt der distinktionsbedürftige Jugendliche nicht aus. Auch jener Phänotyp wird nie verschwinden, der dann, wenn die Zeiten sich wieder einmal ändern – nie ganz tief, aber relativ – allen versichert, er habe früher schon sehr vieles kritisch gesehen, Schlimmeres verhindert und Vieles nicht geahnt. Sollte ich das noch einmal erleben, dann weiß ich, dass auch die biografische Runde zwei komplett hinter mir liegt. Für den dritten Durchgang fehlt mir die Lebenszeit, gottseidank.
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.
25 Kommentare
Original: Wie ich einmal dachte, die DDR wäre tot
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Sich.-Ing. Jörg Hensel
22. März, 2024Wenn mit „Ratifizierung“ eines Rechtsaktes zeitgleich seine Rechtsgrundlage aufgehoben wird, hat dieser Rechtsakt zu keinem Zeitpunkt Rechtskraft erlangt.
Hier: Angenommener Beitritt gem. Art. 3 EinigVtr und die zeitgleiche Aufhebung seiner Rechtsgrundlage (s.g. „Beitrittsartikel“ resp. Art. 23 GG a.F.) via Art. 4 Ziff. 2 EinigVtr.
Daher gab es auch keinen Beitritt der DDR zur BRD, als Voraussetzung für die Wiedervereinigung, so dass die DDR-Verfassung auch nicht – wie beabsichtigt – durch Beitritt aufgehoben wurde resp. weiter fortbesteht und dem Grundgesetz folgerichtig kein Rechtskraft entfaltender Geltungsbereich (Präambel) zugewiesen wurde resp. das Grundgesetz nirgendwo mehr gilt.
Die BRD gibt es nicht mehr. Sie wurde vor 33 Jahren von der DDR annektiert.
Und das ist noch lange nicht alles.
https://menschenrechtsverfahren.wordpress.com/2023/12/02/wir-sind-ddr/
Karsten Dörre
23. März, 2024Die westliche Demokratie und Freiheit sind tot. Sämtliche Demokratieverteidiger von links und rechts reiten in verschiedenen Richtungen ein totes Pferd.
Peter Thomas
24. März, 2024Nein Herr Dörre, nein und nochmals nein! Vielleicht ist die Demokratie verreckt, vielleicht ist der Rechtsstaat verreckt. Aber die Freiheit? Die Freiheit ist erst dann tot, wenn der letzte Mensch, der die Freiheit sucht, totgeschlagen ist. Derart betrachtet gab es Freiheit auch unter Stalin, auch in der DDR, es gibt sie heute und auch künftig wird es sie geben.
Immo Sennewald
23. März, 2024Der Text von Alexander Wendt spricht mir – dem 20 Jahre älteren – aus dem Herzen. Denunziationen und «Aussprachen» bei der Schulleitung hab ich in den 60er Jahren ebenso erlebt. Allerdings war ich in den 80er Jahren als Regisseur schon bewusster ein Gegner des «real existierenden Sozialismus». Die déjà vus sind seit 20 Jahren auch die meinen, auch die Anfälle von Müdigkeit. Sie haben meine Arbeit bei den ÖRR erschwert bis zum Abschied und ich bin froh, über all das mir nicht nur als Journalist, sondern auch in meinen Büchern Klarheit verschafft zu haben. DerSandwirt ist mir dabei ein ebenso starker Partner wie Das Publico-Magazin und andere unabhängige Medien. Schaffen wir gemeinsam die DDR 2.0 ab! Die Jugend braucht Unterstützung, wie wir sie damals von den redlichen, hoch gebildeten Journalisten aus dem Westen erfuhren. Und wir brauchen die Weisheit und Hartnäckigkeit, die wir in den Jahren des Widerstandes gegen SED und Stasi trainiert haben.
Diogenes
23. März, 2024Bleiben Sie stark, lieber Herr Wendt. Ihre Texte gehören zur Oberklasse in diesem Land. Ich hatte bis 2015 den SPIEGEL im Abo und heute in der Arztpraxis nach Jahren wieder in der Hand. Kein Artikel konnte sprachlich und intellektuell mit Ihnen mithalten. Bei Weitem nicht. Natürlich schon gar nicht inhaltlich. Nur noch Einheitsmeinung von der Stange und übelste undemokratische Diffamierung und Hetze dort.
Gut, dass es Alternativen zur in den MSM (auch Zwangsgebührenmedien) einzig erlaubten Meinung -zu fast jedem Thema – gibt. Einen Obolus hatte ich Ihnen zukommen lassen.
Alles Gute und weiter so!
Pauline
23. März, 2024Ich habe den Artikel nur teilweise gelesen – er war mir zu lang. Ich hatte dem SPIEGEL geschrieben, ob sie auch über diese Geschichte berichtet haben, schließlich sei doch ein SPIEGEL-Motte: «Schreiben, was ist». Die Antwort ein paar Tage später lautete, diese Geschichte sei nicht von allgemeinem Interesse!! Typische Anpassung an LINKS u. Grün, «politisch-korrekt». Dieser Direktor verkörpert den deutschen pflichteifrigen Untertan perfekt. Und hat so Karriere gemacht. Der SPIEGEL offensichtlich bei einigen Themen auch.
In einem Interview vor einigen Jahren sagte dieser Jan Dirk Zimmermann über sich selbst: Er sei ein mittelmäßíger Schüler gewesen und außer im Schwimmen in Sport schlecht. Heute ist so jemand Direktor eines Gymnasiums! Und unterrichtet Sport, wie ich gelesen habe.
Dörte Bender
23. März, 2024Sehr geehrter Herr Wendt, ich lese Ihre Beiträge regelmäßig und stimme Ihnen voll zu. Da meine Kinder auf dem besagten Wossidlo Gymnasium zur Schule gingen, weiß ich, dass dort im Geschichtsunterricht, eine für Gymnasien aufgearbeitete Broschüre des Bildungsministeriums über Stasimethoden ,behandelt wurde. Es handelt sich um einen Fall, welcher mich persönlich betrifft und welcher auch in der Gedenkstätte für Stasiverbrechen in Rostock ausgestellt ist ( OV Signal ). Auch habe ich an dem Gymnasium einmal einen Vortrag vor Schülern darüber gehalten, welcher sehr gut ankam. Ich weiß allerdings nicht, ob das heute noch Teil des Lehrplans ist. Als ich von dem Fall der Schülerin hörte, habe ich mich gefragt, ob Herr Zimmermann weiß, was eigentlich an seiner Schule unterrichtet wird. Zumindest ist er wohl nicht in der Lage, meinen Fall auf heute zu adaptieren. Ich habe genauso Gänsehaut bekommen!
Dörte Bender (Neubauer)
ToNo
23. März, 2024Das drucke ich mir aus, rahme es ein und hänge es über meinen Schreibtisch!
N. Borger
23. März, 2024Deutschland wird totalitär, aber ineiner neuen Weise. Man sollte die Dinge beim Namen nennen, solange es noch geht.
Materonow
23. März, 2024Die Blockwartmentalität ist nur eins, ERSCHRECKEND!
Befeuert wird dieses Verhalten noch durch die linksgrüne Politik auf Bundesebene durch Frau Nancy Faeser, die hinreichend bewiesen hat, daß sie völlig ungeeignet ist für den innhabenden Posten.
Diese Nullnummer unter den Linkslinken der im Sinkflug begriffenen SPD, deren mediokres Personal das Beste ist, was sie aufzubieten hat. Das ist mehr als traurig.
Inzwischen fragt man sich, WO sich die Demokratiefeinde befinden, die so eifrig bei anderen gesucht werden.
Gustav Freigeist
23. März, 2024„Alle diese Untersuchungen, die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“
Bärbel Bohley, die das Neue Forum mitbegründet hatte.
Rudi
23. März, 2024Interessant ist dabei, daß dieser Direktor vorher in Aachen also einer Stadt in Westdeutschland arbeitete. Eventuell gehört er zu den Leuten in Westdeutschland, die die DDR positiv gesehen haben und eventuell auch heute noch positiv bewerten. Solche Leute habe ich selber kennengelernt. In der jetzigen durch den «Kampf gegen Rechts» aufgeheizten Atmosphäre sehen solche Leute selbst durch «pro-AfD Statements» «die Demokratie» in Gefahr.
Thomas Schweighäuser
23. März, 2024Nachdem sogar der «Welt» dämmerte, dass es nicht um harmlose Schlumpfvideos ging, sondern um eine kaum kaschierte Werbung für die Nazipartei «III.Weg», besteigt Wendt trotzdem noch das tote Pferd und versucht es zu reiten. Besonders bizarr wirkt der Versuch, die Schülerin zu einer Kämpferin gegen das angeblich antikapitalistische Establishment zu stilisieren: Zum einen hängt auch der III.Weg einem «deutschen Sozialismus» an, zum anderen gehört in MV auch die rechtsextreme AfD längst zum Establishment. Ein Journalist aber, der den gesellschaftlichen Rechtsruck ignoriert, betreibt keine Aufklärung, sondern Propaganda.
G. Eigerzähler
23. März, 2024Ach, Mr. «ex Gotha». Genau das gewohnte substanzlose Geschwafel, wie auf fisch + fleisch.
Rainer Möller
23. März, 2024Man kann «kaum kaschiert» für Produkte wie VW oder die Deutsche Bank werben, weil man da mittels bestimmter Trigger sofort auch unausgesprochen die Assoziation zu diesen Produkten hervorrufen kann. Wenn aber ein Produkt wie der «III. Weg» weitestgehend unbekannt ist, kann man schlechterdings nicht «kaum kaschiert» dafür werben. Bei Trigger-Wörtern wie «Heimat» oder «Identität» assoziiert doch kein durchschnittlicher Leser den «III. Weg», insofern kann sich da auch kein Werbe-Effekt einstellen. Vielleicht unterstellen Sie, das Mädchen hätte da einen (objektiv untauglichen) Versuch gemacht – da müssten Sie dann allerdings schon sehr viel mehr über das Mädchen wissen. Oder wollten Sie uns damit sagen, dass eine positive Einstellung zu Heimat und Identität per se und zwangsläufig zum «III. Weg» führen muss? Das wäre mal eine Ansage!
Werner Bläser
25. März, 2024Ach Gott, ist da eine Figur aus Orwells «1984» zum Leben erweckt worden und schreibt Leserposts?
NaNu
23. März, 2024Sehr geehrter Herr Wendt,
ich lese Ihre Texte sehr gern, sie sind geradezu eine Wohltat und das, obwohl ich einige Bereiche Ihrer Ansichten nicht teile.
Heute würde ich Sie gern etwas fragen zu diesem Satz: «Ich bestehe darauf, in der DDR nicht Opfer, sondern Täter gewesen zu sein.»
Was genau macht Sie zum Täter?
Und was mich ein wenig verwundert ist, dass das, was in Leipzig nach der Wende geschah, Sie so gar nicht tagiert haben soll.
Karli
23. März, 2024Natürlich erschreckt es mich, die «guten alten» politischen Aussprachen von früher wiederkehren zu sehen, ich hatte damals selbst genug davon. Als ich nicht drei Jahre zur Armee wollte, und vor allem, als ich mich als Lehrling vor der Musterung erklärte, auf keinen Fall in den Grenztruppen dienen zu wollen. Aber: Sowas bildet den Charakter. Für das Mädchen ist das momentan zwar vielleicht unangenehm (vielleicht auch nicht, vielleicht fühlt sie sich ein bißchen als Heldin), aber sie lernt, mit Widerständen umzugehen. Kinder, denen immer alle Steine aus dem Weg geräumt werden, kleben sich auf Straßen und heulen rum, wenn jemand sie dort wegräumt.
Solche Aussprachen also sind natürlich symptomatisch für eine Gesinnungsdiktatur, unsere DDR-Erfahrung zeigt aber, daß sie nichts nutzen, ganz im Gegenteil.
Rainer Möller
23. März, 2024Was uns Westlern fehlt, ist ja vor allem die Erfahrung, wie man in eine solche Diktatur «reinrutschen» kann. Von außen sah das immer so aus, als sei in der DDR die sowjetische Besatzungsdiktatur einfach fortgesetzt worden. Deshalb wäre es so wichtig, Bücher zu studieren, die klarmachen, dass in der SBZ durchaus demokratische Ansätze da waren, die aber genauso wie heute – durch Massendemonstrationen, cancel culture, «demokratiesichernde» antifaschistische Regierungsmaßnahmen usw. – abgebaut wurden, und zwar von «Idealisten» mit dem besten Gewissen. Für mich immer noch augenöffnend und sehr zu empfehlen: der Erfahrungsbericht von Marianne und Egon Erwin Müller «Stürmt die Festung Wissenschaft» von 1953. Es gibt vermutlich noch mehr solche zeitgenössische Erfahrungsberichte, die erst wiederentdeckt werden müssten.
Peter Thomas
24. März, 2024Lieber Alexander Wendt, vielen Dank für diesen ausführlichen Text! Sie bestimmen das Ende der Leichtigkeit mit dem 11. September 2001. Das könnte sein. Wir kamen gerade vom Aletschgletscher, als wir die Meldung im Autoradio hörten und erstarrten. // «Den gesellschaftlichen Rechtsruck ignorieren» bringt unser Dilemma auf den Punkt: In der DDR waren, denke ich, so 20 Prozent «pro» und 70 Prozent «anti» (das «anti» war allerdings geheimzuhalten). Heute sind in unserem besten Land die Mengenverhältnisse umgekehrt – als Ergebnis jahrzehntelanger totalitärer Propaganda. // An der EOS wurde ich vom Klassenlehrer einbestellt, weil ich auf der Jacke einen Aufnäher trug: «Schwerter zu Pflugscharen!» Er bedeutet mir, daß ich den entfernen müßte, wenn ich Abitur machen wolle. Er fragte mich noch, ob ich denn Krieg wolle? Ich entfernte das Objekt.
Werner Bläser
25. März, 2024Da ich als Student im Westen noch die 68ier erlebt habe, erstaunt mich an der Mentalität dieser Art von Linken gar nichts. Damals schon war deren Motto gegenüber Andersdenkenden: Denunzieren, Verleumden, Niederbrüllen. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sich diese Pest einmal so weit ausbreiten würde. Aber ich bin sicher: no pasarán.
Denn sie sind zu nichts imstande, ausser zur Zerstörung. So erledigen sie sich früher oder später von selbst.
Susanne Rauber
25. März, 2024Lieber Herr Wendt,
vielen Dank für diesen Artikel. Ich bin in den 1980er Jahren in einer mitteldeutschen Kleinstadt zur Schule gegangen und meine Familie und ich (katholischer Hintergrund) waren die von Ihnen benannten Durchwurschtler. Nicht anecken, aber auch nicht die Selbstachtung verlieren. Als ich mit einem Gorbatschow-Anstecker zur Schule kam, erinnerte mich die Klassenlehrerin an meine EOS-Zulassung und dass ich diese damit aufs Spiel setzte. Am Ende hatte es keine Konsequenzen. Wir haben damals die „Grenzen des Sagbaren” ausgereizt, wie man heute sagen würde. Ich hätte, genau wie Sie, nicht gedacht, dass dies noch mal relevant würde.
Die Menschen hier fühlen sich an alte, lange überwunden geglaubte Zeiten erinnert. Die Triggerpunkte funktionieren noch.
A. Iehsenhain
25. März, 2024Faesers «One Love»-Blutdruckmessgerät dürfte vor Schreck zum Prisma zurück erbleicht sein – der große Diktator «Helly Hansen» lauerte schon auf einem Schulhof in MeckPomm; aber mithilfe des zunehmend selbstständig agierenden heißen Drahts über das Glasfaeser-Kabelnetz konnte Schlimmeres verhindert werden…Freilich, eigentlich alles kein Grund zum Scherzen; aber irgendwie liegt darin für mich eine heilsame Kraft, um von den ganzen anderen Horrorclowns nicht noch schneller in den Wahnsinn getrieben zu werden. Abschließend sei zum wieder mal grandiosen Text ein zusätzliches Lob von meiner Seite gestattet, Herr Wendt: Ihre abgebildete Radierung gefällt mir wirklich ausgezeichnet. Da könnte ich mir gut eine weitere Rubrik oder Ergänzung zu den Texten vorstellen!
Manfred Müller
25. März, 2024Der mit weitem Abstand beste Artikel den ich zu diesem Vorfall gelesen habe, gratuliere, sehr geehrter Herr Wendt! Was die Müdigkeit betrifft: man könnte resignieren angesichts dieser ganzen feigen und denkfaulen Mitläufer. Da darf man die alte chinesische Weisheit nicht vergessen: das Böse, das Zersetzende kann alleine nicht existieren. Gerade die Mitläufer brauchen den moralischen Kompass, jemanden der ihnen den Spiegel vorhält. Das machen Sie ganz hervorragend und natürlich ernten Sie zahlreiche negative Reaktionen. Wer lässt sich schon gerne den Spiegel vorhalten, insbesondere wenn im Spiegel nichts Schönes zu sehen ist. Nur durch den Spiegel aber kann es dem Mitläufer gelingen aus seiner Blase herauszufinden. Dabei entsteht die positive Gegenkraft, die die Müdigkeit vertreibt, man muss es sich nur klarmachen.
Was hat sich denn dieser Pädagoge überhaupt bei seiner Aktion gedacht? Wollte er der AFD eine neue Stammwählerin bescheren? Wollte er sich bei seinen Vorgesezen für ein Fleißkärtchen empfehlen? Sich vor der Tippgeberin als bedeutende und mächtige Perönlichkeit präsentieren? Oder glaubt er nach vielen entbehrungsreichen Jahren an der Unterrichtsfront er habe soviel Menschenkenntnis gesammelt, dass er beurteilen könne, wie man einen scheinbar irregeleiteten jungen Menschen auf den Pfad der Tugend zurückführen kann? Vielleicht ist er einfach nur hoffnunglos überfordert mit seinem Beruf, konnte im Westen nicht die Karriere machen die ihm angemessen erschien und ist in den Osten gegangen wo der Posten zu kriegen war, an dem er nun wiederum überfordert ist. Sowas passiert. Hoffen wir dass er Ihren Text liest, reflektiert und dabei ein Stück geistiger Gesundheit für sich findet.
Ich würde die Äußerungen der Schülerin aber nicht einfach ins pubertäre Schema einordnen. Was ist denn falsch daran, wenn ein junger Mensch eine Heimat will und Sicherheit, soziale und materielle, insbesondere als junge Frau, Schutz vor Übergriffen. Man erinnere sich an die Empfehlung einer Regensburger Schulleitung die Mädchen mögen möglichst nur in Begleitung durch den Park gehen! In jeder mittelgroßen Stadt gibt es heutzutage no go areas, also Orte und Gegenden die man ohne Schutz zu bestimmten Uhrzeiten besser nicht betreten sollte. Die Kriminalitätsstatistik ist, zumindest an den Orten die ich kenne, unauffällig. Das liegt daran dass diejenigen, die diese Orte aufsuchen nicht zur Polizei gehen, wenn es zu Gewalttätigkeiten kommt und die anderen diese Orte meiden. Das Mädchen zitierte wohl auch Björn Höcke, den Gott sei bei uns der links grünen Traumtänzer: «Ihr erzieht Eure Kinder zu Schafen und lasst Wölfe ins Land» . So falsch ist das ja nun nicht. Ich kenne eine Jugenddisko seit etwa 30 Jahren, vor 30 Jahren war das laut, etwas dreckig, etwas versifft, etwas drogenlastig, aber nie gefährlich. Heutzutage getrauen sich die Mädels ohne Begleitung nicht mehr dorthin und viele meiden diesen Ort von vorne herein weil sie dort ständig belästigt werden.
Vielleicht sollte der Schulleiter darüber mal nachdenken und hoffentlich hilft ihm Ihr Artikel dabei!
Chris
27. März, 2024Herrn Wendts Artikel gehören zum Besten, was man aktuell zu lesen bekommt.
Sachlichkeit, fundierter Inhalt sowie intellektuelle und sprachliche Klarheit sind eine Freude. Leider ist diese Art von Journalismus kaum noch zu finden.
In der Sache entsprechen die Schilderungen meinen eigenen Erfahrungen aus Westdeutschland. Allerdings war begann die Intoleranz der linkslastigen Elite schon langsam in den 70gern, steigerte sich dann in gewaltsamen Auseindersetzungen (Atomkraft, Nato-Doppelbeschluss) in den 80gern. Nach der Wiedervereinigung wurde es erst einmal ruhiger, es gab andere Probleme, hat sich aber bis heute in ungeahnte Höhen wieder hochgeschaukelt.