Alte & Weise: Aphorismen
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Von Alexander Wendt / / alte-weise, spreu-weizen / 5 min Lesezeit
„Die Moral ist ein Einbruchswerkzeug, welches den Vorteil hat, daß es nie am Tatort zurückgelassen wird.“
Karl Kraus Aphorismen
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Original: Alte & Weise: Aphorismen
Liebe Leser von Publico: Dieses Onlinemagazin erfüllt wie eine Reihe von anderen Medien, die in den letzten Jahren entstanden sind, eine zentrale und früher auch allgemein selbstverständliche publizistische Aufgabe:
Es konzentriert sich auf Regierungs- und Gesellschaftskritik.
Offensichtlich besteht ein großes Interesse an Essays und Recherchen, die diesen Anspruch erfüllen.
Das jedenfalls zeigen die steigenden Zugriffszahlen.
Kritik und Streit gehören zur Essenz einer offenen Gesellschaft.
Für einen zivilisierten Streit braucht es gut begründete Argumente und Meinungen, Informationen und Dokumentationen von Fakten.
Publico versucht das mit seinen sehr bescheidenen Mitteln Woche für Woche aufs Neue zu bieten.
Dafür erhält dieses Magazin selbstverständlich kein Steuergeld aus dem Medienförderungstopf der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, kein Geld aus dem Fonds der Bundeszentrale für politische Bildung (obwohl Publico zur politischen Bildung beiträgt) und auch keine Überweisungen von Stiftungen, hinter denen wohlmeinende Milliardäre stehen.
Ganz im Vertrauen: Publico möchte dieses Geld auch nicht.
Die einzige Verbindung zu diesen staatlichen Fördergeldern besteht darin, dass der Gründer des Magazins genauso wie seine Autoren mit seinen Steuern dazu beiträgt, dass ganz bestimmte Anbieter auf dem Medien- und Meinungsmarkt keine Geldsorgen kennen.
Es gibt nur eine Instanz, von der Publico Unterstützung annimmt, und der dieses Medium überhaupt seine Existenz verdankt: die Leserschaft.
Alle Leser von Publico, die uns mit ihren Beiträgen unterstützen, machen es uns möglich, immer wieder ausführliche Recherchen, Dossiers und Widerlegungen von Falschbehauptungen anzubieten, Reportagen und Rezensionen.
Außerdem noch den montäglichen Cartoon von Bernd Zeller. Und das alles ohne Bezahlschranke und Abo-Modell. Wer unterstützt, sorgt also auch für die (wachsende) Reichweite dieses Mediums.
Publico kann dadurch seinen Autoren Honorare zahlen, die sich nicht wesentlich von denen großer Konzernmedien unterscheiden (und wir würden gern noch besser zahlen, wenn wir könnten, auch der unersetzlichen Redakteurin, die Titelgrafiken entwirft, Fehler ausmerzt, Leserzuschriften durchsieht und vieles mehr).
Jeder Beitrag hilft.
Sie sind vermutlich weder Claudia Roth noch Milliardär.
Trotzdem können Sie die Medienlandschaft in Deutschland beeinflussen.
Und das schon mit kleinem Einsatz.
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Dafür herzlichen Dank.
Die Redaktion
Werner Bläser
30. Juni, 2023Moral als Waffe im politischen Kampf. Hierzu ein Lesetipp: Jan Voelkel / Matthew Feinberg, Morally Reframed Arguments Can Affect Support for Political Candidates, in: ‘Social Psychological and Personality Science’, Nov 2018.
A. Iehsenhain
30. Juni, 2023Unliebsame Meinungen werden gegenwärtig laufend damit gekeult. Es wird gut verwahrt in den Asservatenkammern der «Offenen Gesellschaft». Dort wäre mal eine Haushaltsauflösung dringend nötig…
TinaTobel
1. Juli, 2023Moral ist ein Allzweckwerkzeug. Man kann sie auch als Ersatz für Können und Arbeitseinsatz verwenden.
Werner Bläser
2. Juli, 2023Chapeau! Treffender kann man unseren politischen Zustand nicht beschreiben.
Werner Bläser
5. Juli, 2023Wir müssen die schreckliche Zeit überbrücken, in der kein Artikel von Herrn Wendt erscheint. Nun denn, Thema Moralismus:
Ich möchte noch einmal auf die brillante Studie von Herrmann Lübbe über politischen Moralismus verweisen, die bereits 1984 entstand, dem Todesjahr von Helmut Schelsky, einem anderen Leuchtturm der Neo-Aufklärung. Lübbes Arbeit (Untertitel: «Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft») wurde 2019 neu aufgelegt, weil die Aktualität seines Themas u.a. durch Merkels Grenzöffnung evidenter denn je war.
Wer sich nicht gleich die ganze Arbeit Lübbes zu Gemüte führen will – was ich allerdings dringend empfehle, zumal sie recht kurz ist -, der kann immerhin beginnen, indem er er den kurzen Bericht von Ferdinand Knauss darüber in der ‘Wirtschaftswoche’ vom 23.6.19 anschaut.
Lübbe widerlegt erst einmal die irrige Meinung Horkheimers, dass Verbrechen in totalitären Systemen vorwiegend durch die moralische Minderwertigkeit der Täter erklärbar seien. Opportunismus gibt es sicher auch, wird aber nur eine Minderheit von Fällen abdecken. In den meisten Fällen wird eine Reduktion kognitiver Dissonanz (meine Interpretation) stattfinden, wobei selbst die grauenhaftesten Verstösse gegen elementare Gesetze der Moral durch Ideologisierung – also durch eine gruppenspezifische Anpassung und Verbiegung von Moral – gerechtfertigt werden.
Der Totalitäre sieht sich selbst nicht als amoralisch – ganz im Gegenteil: Er glaubt, er habe anderen gegenüber die überlegene Moral.
Dies trifft sogar auf die Nazis zu, Lübbe verweist dazu etwa auf die Posener Rede Heinrich Himmlers (nachlesbar unter ‘1000 Dokumente.de), in der Himmler den Judenmord moralisch zu rechtfertigen versuchte. Für die Kommunisten ist es selbstverständlich. Lübbe zitiert dazu eine Lenin-Aussage aus einer internen Publikation der Tscheka, wonach die Kommunisten ALLES tun dürften, da sie absolut moralisch seien (ich paraphrasiere aus dem Gedächtnis).
– Auch die mittelalterlichen Hexen- und Ketzerverbrenner sahen sich nicht als Unmenschen, sondern als Moralisten, die die Gesellschaft vor verderblichen Elementen schützten. Sekten wie die Münsteraner Wiedertäufer, die ‘People’s Temple’-Gemeinschaft von Jim Jones, Paul Schäfers ‘Colonia Dignidad’ in Chile und viele andere bieten plastische Beispiele für das Verdikt von Karl Popper, dass der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, stets die Hölle erzeuge («Die offene Gesellschaft und ihre Feinde»).
– Wer nach der Lektüre von Lübbe noch etwas Zeit aufbringt und sich für die Geschichte Chinas interessiert, kann sich auf das Entstehen und Vergehen der Taiping-Sekte dort anschauen, deren Aufstand in den 50iger und 60iger Jahren des vorletzten Jahrhunderts wohl mehr Menschenleben kostete als der 1. Weltkrieg.
Die ‘Taipings’ waren keineswegs Unmenschen per se, obwohl sie grausamste Kriegsverbrechen verübten (für eine erste Information ist der englische Wikipedia-Artikel ausreichend, von S. Mossman gibt es auf ‘Open Library’ das Buch «The Great Taiping Rebellion», von 1893, durchaus noch lesenswert, auf Google Books findet sich u.a. eine Arbeit von Chin Shunshin mit Vorschau, oder auch eine von Thomas Reilly).
Die Taipings begannen ganz normal als Sozialrevolutionäre, die sich realer sozialer Probleme in der Qing-Dynastie annahmen – ihre Unzufriedenheit erschien absolut gerechtfertigt.
– Die Bewegung bietet aber geradezu ein Paradebeispiel dafür – deshalb erwähne ich sie hier – wie eine an sich gute Sache von sozial devianten Aussenseitern und Spinnern sozusagen «gekapert» werden kann und sich zu einer nicht nur weltfremden, sondern sogar gefährlichen Sekte entwickeln kann.
Der Aufstand wurde massgeblich organisiert von einem gewissen Hong Xiuquan, der gleich mehrmals durch die kaiserliche Beamtenprüfung rasselte, und nach dem letzten Scheitern Visionen entwickelte, ein Bruder Jesu Christi zu sein.
– Ähnlichkeiten zu Personen in der deutschen Politik sind von mir hier selbstredend nicht beabsichtigt – bei uns haben ja gottseidank ALLE wichtigen Amtsträger fachspezifische Ausbildungen, Examina und Berufserfahrung und sind weit davon entfernt, berufliche Versager zu sein und sich als quasi-religiöse Weltenretter berufen zu fühlen.
– Kurz: der Taiping-Aufstand brach nach grossen Anfangserfolgen im wesentlichen deshalb zusammen, weil seine Führer «durchknallten», grössenwahnsinnig wurden und sich von der normalen Bevölkerung geistig entfernten. Hong z.B. liess sich in Nanjing, als er die Stadt erobert hatte, einen Königspalast von 5 km Länge bauen. Neros ‘Domus aurea’ in Rom (ist das verdammte Ding jetzt endlich wieder geöffnet – weiss das einer?) ist geradezu eine Hundehütte dazu, im Vergleich.
Hong, Jim Jones, oder der Anführer der Münsteraner Wiedertäufer, Jan van Leiden, bieten anschauliche Studienobjekte dafür, wie die Führer von ursprünglich durchaus sympathieträchtigen Bewegungen sich zu psychisch gestörten Monstern entwickeln können, wenn sie sich moralisch absolut setzen.
– Und die Moral von der Geschicht’: Leute, glaubt selbsternannten Moralisten nicht!