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Politik, Gesellschaft & Übergänge

Von Stichforschern und anderen Narrativkräften

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„Expertin für Messerkriminalität“, „Transformationsforscherin“ – mittlerweile existiert ein Markt für Experten, die medial passgenau das Gewünschte abliefern. Ein kleiner Überblick von Jürgen Schmid

Von Redaktion / / politik-gesellschaft / 28 min Lesezeit

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Die Anthropologin Bonnie Urciuoli hat vor einigen Jahren die Ergebnisse ihrer Feldforschung über „Neoliberal Education“ an amerikanischen Universitäten mit dem vielsagenden Untertitel “Preparing the Student for the New Workplace“ veröffentlicht. Urciuoli beschreibt anschaulich, wie in der neoliberalen Vorstellungswelt jede Person zu ihrem eigenen Produkt werden muss („Students thinking of themselves ‘as products, not people’”) – mit einem primären Zweck: sich selbst zur Marke zu machen.

Professorale Lehrkörper sind zu einer Ausbildung in diesem Sinne exzellent befähigt, weil die meisten von ihnen selbst bestens präpariert sind für den Markt der neuen Aufmerksamkeitsökonomie. Sie haben sich Expertisen zugelegt, die marktgängig klingen und mehr einem Bewerbungsschreiben für einen Fensterplatz in der medialen Expertokratie gleichen, als dass sie einen akademischen Kanon abbilden würden. Denn keine Nachrichtensendung, keine Talkshow, kein „einordnendes“ Interview ist inzwischen mehr denkbar ohne den passenden Experten, der nichts weniger als „die Wissenschaft“ repräsentiert.

In diesem Sinne gibt es mittlerweile Professuren für „Gender Studies und Kulturtheorie“, bei denen nur der verschämte Anhang „und Neuere Deutsche Literatur“ eine Zuordnung zur Fachdisziplin der Germanistik zulässt – vorerst jedenfalls. Was traditionell als Historiker oder Volkskundler (jetzt: Ethnologe) forschte und lehrte, firmiert heute als Migrationsexperte oder kritische Grenzregimeforscherin.

So wie Beratungsfirmen inflationär versprechen, „passgenaue“ oder „maßgeschneiderte“ Lösungen für alle Probleme dieser Welt entwickeln zu können, so haben sich diejenigen, die bisher Wissenschaftler hießen – und ganz früher Gelehrte – passende Narrativkompetenzen in ihren Lebenslauf gezaubert, von denen bisher noch nie jemand etwas gehört hat. Die futuristischen Kompetenzzuschreibungen sind aber unabdingbar, um als Teil der herrschenden „Moralbourgeoisie“ anerkannt und alimentiert zu werden.

Zwei Beispiele aus dem Klimadiskurs: Die „Transformationsforscherin“ Maja Göpel und „der Wohnforscher Daniel Fuhrhop von der Universität Oldenburg“ gehören zu einer komplett neuen Gattung „Forscher“ bzw. „Wissenschaftler“, die es so gar nicht gibt, zumindest nicht ihre selbstgebastelten Berufsbezeichnungen. Der akademische Kanon der Disziplinen, der sich seit Humboldts Zeiten, also über mehr als zwei Jahrhunderte, herausgebildet hat, kennt Medizin, Theologie, Jurisprudenz, Wirtschafts- und Naturwissenschaften sowie die uns hier interessierenden Geistes- und Gesellschaftswissenschaften – etwa Geschichte, Ethnologie, Soziologie, Politologie und allerhand Philologien.

Wenn nun Maja Göpel behauptet, „Transformationsforscherin“ zu sein, dann ist das Unsinn. Sie muss ja – akademisch betrachtet – irgendetwas sein, was es gibt, und kann nicht einfach ihr Beschäftigungsfeld zur akademischen Disziplin erheben. Wikipedia bezeichnet Göpel als „Politökonomin, Transformationsforscherin, Nachhaltigkeitsexpertin und Gesellschaftswissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf transdisziplinärem Denken“. Korrekt ist lediglich die Gesellschaftswissenschaftlerin, da sie einen Doktorgrad „rer. pol.“ erworben hat – also Politikwissenschaftlerin ist. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit „institutionalistischen Theorien und hegemonialen Praktiken globaler Politikgestaltung“, eingereicht 2007 an der Universität Kassel am „Fachbereich Gesellschaftswissenschaften“ (q.e.d.).

„Wohnforscher“ Daniel Fuhrhop ist Architekt, der im Nebenfach Betriebswirtschaftslehre studiert hat. Er diplomierte an der TU Berlin über Shopping-Center aus betriebswirtschaftlicher und stadtplanerischer Sicht. Später arbeitete er als Verleger. Niemals dürfte ein journalistischer Interviewer solchen Experten erlauben, dass sie ihm und seinen Lesern ihre handgeschnitzten Berufsbezeichnungen andrehen. Ein Politologe muss als Politologe vorgestellt werden, eine Ethnologin als Ethnologin – und wenn sie dem Publikum noch dreimal verkaufen will, dass sie sich als Grenzregimeforscherin fühlt. Fuhrhop wäre demnach „studierter Architekt, heute Verleger“.

Bei dieser Imageaufpolierung zum Zwecke der Marktgängigmachung von Expertise kann man zwei Typen unterscheiden: Die einen haben tatsächlich einen akademischen Hintergrund, den sie verbal – nun ja – etwas frisieren für ihre mediale Präsenz. Wenn ein Mittelalterhistoriker wie Valentin Groebner, der über das „Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts“ promoviert hat, mit dieser Thematik in die Presse wollte, täte er sich schwer. Wenn er aber als eine Art Tourismuskritiker auftritt und in einem Buch mit dem Titel „Ferienmüde“ die These vertritt, Reisen könnte „obsolet werden“, schlägt er zwei korrespondierende Fliegen mit einer Klappe: Er bedient einen der herrschenden „Diskurse“, hier jenen über die Klimaschädlichkeit menschlichen Tuns, wofür er Aufmerksamkeit in transformationsfreudigen Medien wie Deutschlandfunk und FAZ bekommt.

Andere haben ihre Expertise nicht forschend erworben, sondern in verschiedenen Positionen ersessen – sei es als Parlamentarier in Ausschüssen oder im Fall der als Verkehrsexpertin gelabelten Katja Diehl als Leiterin „Marketing und Kommunikation Mobilität“ bei den Osnabrücker Stadtwerken, nachdem sie deutlich expertisenfern Literaturwissenschaften studiert hatte. Der Marketingjob genügte offensichtlich dafür, zur „Remarkable Women in Transport“ einer „Transformative Urban Mobility Initiative“ ernannt zu werden, damit als Beirätin der österreichischen Klimaschutzministerin Leonore Gewessler wirken zu dürfen und in gleicher Funktion beim baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann (beides Grüne), außerdem als allzeit auskunftswillige Expertin des WDR, wenn es dort um die Schädlichkeit des Autos geht. Mit etwas Lust an Polemik könnte man aus dieser Vita auch einen weiteren Typus des Experten herausdestillieren – jenen des Hochstaplers.

Für den Phänotyp des politischen Kompetenzersitzers bietet sich die langjährige grüne Energieexpertin Sylvia Kotting-Uhl an, die bis 2021 auch dem Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit vorsaß. Ihrem Lebenslauf zufolge studierte sie Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte – wobei keine Abschlüsse erwähnt werden. Vorübergehend arbeitete sie als Dramaturgin an der Landesbühne Baden-Baden. Außerdem heißt es in ihrer Biographie, dass sie 1985 eine Kinderwerkstatt aufbaute. Solchermaßen für Fragen der Energieversorgung eines Industrielandes gerüstet machte sie 2021 Furore, als sie vor dem Bundestag verkündete, die Stromversorgung der Zukunft werde „spannender“ und „nicht mehr nachfrage- sondern angebotsorientiert“ sein.

Dazu kommen noch diejenigen, die erst auf den medialen Expertenmarkt drängen. Das sieht im Falle von Christoph Burger so aus: Er hält seine Profession für „zu unpolitisch“, träumt öffentlich von einer Psychologie, „die uns hilft, […] alle unsere Wertungen herumzudrehen“, so herum, dass man „den Klimakleber normal nennt und die Normalität hochriskant.“ Er sieht „uns“ „vor Kipppunktkaskaden stehen“, weshalb er als Psychologist for Future eine „kritische Umweltpsychologie“ fordert, „die in den radikalen Notfallmodus wechselt“. Seiner Berufung zum ARD-Experten mit Bauchbinde „Umweltpsychologe“ dürfte nichts mehr im Wege stehen.

Erfundene Selbstbezeichnungen von Wissenschaftlern und Lobbyisten – zwei einander in der moralgesättigten Agendawissenschaft paradox überschneidende Felder – bilden ein Fundament für die propagandistische Aufbereitung der Wirklichkeit. Aus dem reichhaltigen Angebot an Experten können die Medien jederzeit das Passende wählen: Wenn über Frontex zu urteilen ist (früher nannte man das in einer Nachrichtensendung „berichten“), holt sich der ÖRR keinen drögen Politologen, sondern eine nassforsche Grenzregimeforscherin ins Studio, die für „No nation, no border“ wirbt. Wenn die Zeit eine gendersensible Mobilitätswende propagieren will, hat sie sogleich eine Verkehrsexpertin zur Hand, bevorzugt mit Schwerpunkt auf „geschlechtergerechte Perspektiven in der Verkehrs- und Stadtplanung“.
Meike Spitzner spricht hierbei für die ur-grüne Denkfabrik „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“. Ihre erlernte Profession wird etwas nebulös mit „Sozialwissenschaft“ angegeben (Soziologie?) – jedenfalls nichts, was sie speziell für die Themen „Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik“ befähigen würde, die sie projektleitet. Perfekt angepasst ist Verkehrsexpertin Spitzner dagegen an die Bedürfnisse einer Transformations-Avantgarde namens Zeit, um einem Pamphlet über „Die männliche Stadt“ den erwünschten wissenschaftlichen Segen zu spenden für diese steile These: „Viele Städte sind von Männern für ihre Bedürfnisse gebaut: Hauptsache, effizient zur Arbeit. Pech für alle mit Kinderwagen, Einkaufstaschen oder Rollstuhl.“

Selbst jemand, der ein Studium absolviert hat und sich im akademischen Milieu auskennt, kann inzwischen kaum mehr zuordnen, in welchem Fach jene Experten ausgebildet wurden und forschen, die uns in den Medien täglich vorgesetzt werden. Es findet eine Inflationierung willkürlicher Expertisen-Zuschreibungen für alles statt, was einer politischen Agenda gerade dienlich ist.

Nun tauchte im Zusammenhang mit der jüngsten Messerattacke in einem Zug zwischen Kiel und Hamburg (zwei Ermordete, mehrere Schwerverletzte) zum genau richtigen Zeitpunkt eine „Expertin für Messerkriminalität” auf. Auf dem Nachrichtenportal von t-online darf sie zur drängenden Frage „Messerattacken und Herkunft“ Entwarnung im Sinne des Mainstream-Narrativs geben: „In unserer Forschung können wir keinen Zusammenhang sehen“. Auch eine Zunahme von Messerattacken sieht sie nicht.

Elena Rausch, besagte Expertin, wird auch als „Juristin“ vorgestellt, als Mitarbeiterin der Kriminologischen Zentralstelle e.V. in Wiesbaden. Eine Disziplin namens „Messerkriminalität“ ist allerdings bisher im juristischen Bereich noch nicht vorstellig geworden, weder in der akademischen Ausbildung noch im rechtsanwaltlichen Alltag. Das Themenfeld dürfte dem Strafrecht angehören, was (zu) sehr nach Verurteilung und Strafvollzug klingt, um es einem größeren Publikum präsentieren zu können. Rausch hat ein Studium der Rechtswissenschaften absolviert und mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen – Schwerpunkt: Kriminologie und Strafrechtspflege. Immerhin wird die Expertin bei n-tv zutreffend als „Kriminologin“ geführt.

Merkwürdig nur, dass die Bundespolizei andere Zahlen nennt als Expertin Rausch. Danach kam es 2022 zu 82 Messerangriffen in Zügen, nahezu eine Verdoppelung im Vergleich zu 2021, als 44 entsprechende Straftaten erfasst wurden. An Bahnhöfen und Haltestellen mussten sogar 254 Messerattacken registriert werden, deutlich mehr als die 122 vom Vorjahr. Dabei wurden im Jahr 2022 fünf Personen getötet – im Jahr 2021 nur zwei. Daneben gab es 6747 Verletzte, im Jahr zuvor waren es nur 4138. („Nur“ zwei Tote durch Messerangriffe, „nur“ 4138 Verletzte – kleine Sprachpartikel können so zynisch sein.)

Diese Zahlen widersprechen in krasser Form den Einlassungen der „Expertin für Messerkriminalität” (t-online), die gerade durch die Medien gereicht wird. Bei n-tv dekretiert Elena Rausch ohne Wenn und Aber: „Wir können in keinem Bundesland einen Anstieg verzeichnen, eher einen Rückgang beziehungsweise ein gleichbleibendes Niveau.“ Nur durch den Umstand, dass „verstärkt über Messerkriminalität berichtet“ werde, entstehe der „Eindruck“, „Messergewalt in Deutschland nehme zu“. Es ist demnach keine Tatsache, dass immer mehr Menschen mit Messern ermordet werden, sondern ein falscher „Eindruck“, den der Mediendiskurs generiert.

Gefragt nach der „Herkunft der Täter“, lautet die themaverfehlende Antwort von Kriminologin Rausch: „Etwa 60 Prozent, also die überwiegende Mehrheit der Angriffe werden von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit verübt.“ Ein durchschaubarer Versuch, den Kern des Problems zu umschiffen. Denn nicht die Staatsangehörigkeit messermordender Täter steht zur Klärung an, sondern ihre ethnische Herkunft. Was sagt dazu die polizeiliche Eingangsstatistik? Von 71 Tatverdächtigen, gegen die 2022 „wegen Gewaltstraftaten mit Messereinsatz in Zügen“ ermittelt wurde, waren 36 „Nicht-Deutsche“ – sprich: eine deutliche Überrepräsentation. Denn der Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung liegt bei etwa 13 Prozent.

Wenn Aljoscha Prange von n-tv radebricht: „Was leitet Menschen, mit einem Messer in der Tasche herumzulaufen oder es sogar anzuwenden?“, wird dem Leser schwindlig. Eine derart unangemessene, unbeholfene, ja verquaste Formulierung kommt wohl heraus, wenn man sich jahrelang abtrainiert, die Dinge beim Namen zu nennen, weil alles, was man anfasst, von Tabus umstellt ist, die man selbst mit aufgestellt hat. Rauschs Antwort entbehrt dann auch nicht der Rabulistik: „Viele Personen tragen Messer zum Selbstschutz. Verteidigungsgedanken spielen dabei eine große Rolle.“ Fazit: „Psychische Probleme sind klar das Hauptproblem, das Messer ist im Grunde nur ein Symptom.“ Wer von einem Messer ins Jenseits befördert wird, so muss man schlussfolgern, ist also gar nicht tot, sondern lediglich einem Symptom begegnet.

Auf die ebenfalls merkwürdig klingende Frage, was „Messer als Tatmittel“ gefährlich mache, erklärt Messerkriminalitätsexpertin Rausch, „bei solchen Angriffen“ würden „hauptsächlich Küchenmesser eingesetzt“. Das Problem: „Es kommt jeder dran, der möchte.“ Wer bisher ohne einordnende Expertise vermutet hat, ein Messer würde dann zur tödlichen Gefahr, wenn damit zugestochen wird, kann hier durchaus Neues lernen.

Nichts Neues im Narrativschaffen deutscher Willkommenskultur ist hingegen Rauschs Inschutznahme der Täter, denen sie „Opfer-Erfahrungen“ attestieren will, aus denen „psychische Probleme“ resultierten – gerade so, als wäre der Messermörder dadurch in seiner Tat gerechtfertigt.

Dann stellt n-tv-Mann Prange tatsächlich noch eine journalistische Frage: „Der mutmaßliche Täter von Brokstedt ist polizeibekannt, wurde nur wenige Tage vor der Tat in Hamburg aus der U-Haft entlassen. Wie lässt sich ein so schneller Rückfall erklären?“ Auch hier zeigt die Messerforscherin vor allem Verständnis für den Täter: „Im Gefängnis ist man völlig fremdbestimmt, der Alltag ist stark reguliert. Aus der Haft zu kommen, ist grundsätzlich ein Realitätsschock. Den muss man erstmal verarbeiten. Und wenn man psychisch nicht so stabil ist, kann einem das ganz schön zusetzen.“ Würden „psychisch labile Menschen“ – und nur solche würden zu Messerstechern, soll uns dies sagen – besser betreut, wären das „Maßnahmen“, die „sehr erfolgversprechend“ seien. Diese Empathie für Straftäter lässt der Journalist zum Abschluss des Interviews, das einen Mord an zwei Menschen thematisieren sollte, unkommentiert im Raum schweben.

Auf t-online ein ähnliches Schema. Auch hier gibt sich Expertin Rausch dem Täter zugewandt: „Ein wichtiger Faktor, warum sich eine Person mit einem Messer bewaffnet, kann sein, dass sie sich bedroht fühlt.“ Nicht derjenige, der ein Messer als Mordwaffe einsetzt, bedroht jemanden; er selbst ist der Bedrohte. Der angestrebte Tugendpfad ist eingeschlagen, Journalistin Lisa Becke kann „Traumata“ zur Sprache bringen – perfektes Stichwort für die Interviewte: „Für Menschen, die geflüchtet sind, sind das oft traumatische Erfahrungen. Und in Deutschland machen diese Menschen häufig nicht die besten Erfahrungen. Das kann auch zu einer ablehnenden Haltung der Gesellschaft gegenüber führen.“ Subtext: Kein Wunder, dass so jemand mal willkürlich zusticht.

Die neuen Experten sind wahre Tausendsassas: Keine Regierungskritik, die sie nicht entkräften könnten; keine Beschreibung der Wirklichkeit, die nicht ins polit-mediale Narrativ passt, welche von ihnen nicht dekonstruiert und als Fake enttarnt würde; kein alternativer Lösungsvorschlag für Probleme, die sie nicht als Schwurbelei von Verschwörungstheoretikern und Demokratiedelegitimierern entlarven könnten. Wie Kai aus der Kiste sind sie zur Stelle, wenn eine politische Forderung narrativtechnisch mit akademischem Vokabular unterfüttert werden muss. Oder falls eine Tatsache, die das beste Deutschland, das wir jemals hatten, nicht in bunten Farben schillern lässt, dringend _eingeordnet _gehört. Der Experte hat nicht die Aufgabe, zu sagen, was ist, sondern was sein soll.

Und wenn jemandem nicht gefällt, was diese Experten sagen, wenn einer gar so dummdreist wäre, Widersprüche zwischen Experten-Erzählung und Wirklichkeit aufzudecken, dann gibt es – neben den Fakten-Checkern und mit diesen Hand in Hand arbeitend – zum Glück immer noch den Extremismusforscher oder die Expertin für Verschwörungstheorien, die mit wissenschaftlicher Expertise nachweisen, warum es sich bei Kritikern von Migration und Transformation um gefährliche Rechtsextremisten handelt. Experten, die auf Linksextremismus spezialisiert sind, gibt es auch – sie werden nur selten bis nie von etablierten Medien nach ihren Erkenntnissen gefragt. Ein Publicity-gestählter Exponent des Extremismusdefinierens ist der Soziologe Matthias Quent, der praktischerweise zu Rassismus, Hasskriminalität, Hasssprache, Radikalisierung, Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus forscht, was ihn zum Gründungsdirektor des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft prädestinierte – einer staatlich alimentierten NGO in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung – und damit naturgemäß zum Stammgast in der Tagesschau und bei Markus Lanz beförderte.

Die Expertokratie dient den Regierenden als lückenlos geknüpftes Sicherheitsnetz zur Aufrechterhaltung ihrer Deutungshoheit über die Realität, verhalte diese sich, wie sie wolle. Und als wissenschaftlich unhinterfragbares Schutzschild vor jedweder Kritik an legislativen oder exekutiven Entscheidungen. Der moderne Experte ist quasi ein Leibgardist von „Mentalitätsmachthabern“ (Peter Sloterdijk).

Wohl der Demokratie, die solche Experten hat. Und Medien, die den Experten-Markt so gut überblicken, dass sie bei deren Auswahl stets die richtigen finden. Dass die Bundespolizei zu ganz anderen Zahlen kommt als die Messer-Fachfrau, erklärt sich übrigens ganz einfach: Dort arbeiten nur Praktiker. Und keine Experten.

Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.

11 Kommentare
  • P. Funk
    4. Februar, 2023

    Guter Text mit einem kleinen Schönheitsfehler. Richtig wird darauf hingewiesen, dass «nicht die Staatsangehörigkeit messermordender Täter steht zur Klärung an, sondern ihre ethnische Herkunft», aber dann wird die «polizeiliche Eingangsstatistik» zitiert, die ebenfalls nur «Nichtdeutsche» identifiziert, also doch offenbar ebenfalls Menschen ohne deutschen Pass. Was hier aber interessiert, ist der Migrationshintergrund.

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  • Werner Bläser
    4. Februar, 2023

    Die wundersame Verwandlung von Wissenschaft in Schwurbel-ogie fing meinem Eindruck nach irgendwann in den 80iger Jahren an, als es in den Sozialwissenschaften zunehmend unwichtiger wurde, Ahnung von irgendwelchen Fakten und Zahlen zu haben; dafür diente die richtige Ideologie bei vielen Professoren als Ersatz.
    Ein Kommilitone und ich machten uns damals einen Jux – zugegeben, nach fast tödlichen Alkoholmengen – und faselten ein entsetzlich sinnfreies Machwerk von Seminararbeit zusammen (wir brauchten den Schein nicht unbedingt); Maxime war, den erbärmlichsten inhaltlichen Blödsinn unter einem Wust von wissenschaftlich klingendem Vokabular zu verstecken, so dass es irgendwie nach außen wie eine wissenschaftlichen Arbeit klang. Noch sturzbesoffen, warfen wir schwankend, prustend und schenkelklopfend den nächtlich zusammengestoppelten Mumpitz in den Postkasten.
    Zur Besprechung mit dem zuständigen Professor kamen wir mit allen möglichen vorgefertigten Entschuldigungen: wir hätten eine Persiflage auf die Politologensprache schreiben wollen, und ähnliches. Es war unnötig.
    Der Prof fand unsere Arbeit toll (ich schwöre, diese Anekdote ist keine Erfindung!).
    Deshalb wundert mich in diesem Betrieb nichts mehr. Der Vorrat an entsprechenden «Experten» ist unerschöpflich. –
    – Das Ganze erinnert mich in seiner allumfassenden Verlogenheit an Herman Melvilles Parabel «The Confidence Man», passenderweise an einem 1. April erschienen, in dem der Autor meisterhaft Lügen, Vertrauenserschleichung, Manipulation und Naivität einer Gesellschaft auf einem Schiff beschreibt. Das Schiff könnte durchaus «Deutschland» heissen.

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  • Majestyk
    4. Februar, 2023

    Experten sind Menschen, die das, was sie gestern gelernt haben, gegen die Erkenntnisse von morgen verteidigen.

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    • Dr. Wolf Manuel Schröter
      5. Februar, 2023

      «Experten sind Menschen, die das, was sie gestern gelernt haben, gegen die Erkenntnisse von morgen verteidigen.»
      Im Sinne des hier zu diskutierenden Artikels ist das nicht.
      Die «Experten» hier sind eben eigentlich keine: Sie haben irgendetwas gelernt (wenn überhaupt und oft nur in Bruchstücken, wie z.B. die deutsche Außenministerin) und, wie im Artikel richtig bemerkt, sich selbst etwas (nach ihrem eigenen Bilde und, vor allem, marktgerecht) «zurechtgeschnitzt». Mit Aussagen zu ihrem «Selbstgeschnitzten» verteidigen sie die Unwahrheit gegen die Wahrheit und das gilt nicht nur für wissenschaftliche Erkenntnisse; es dient einfach allem, was seitens einflussreicher Kreise zu Wahrung ihrer Interessen als «wahr» «definiert» wird.
      Ich bestreite nicht, dass in diesen «Unwahrheiten» Teile der Wahrheit enthalten sind, aber das verschlimmert das Ganze noch, da es den Blick vieler «Unbelehrter» (nicht herablassend gemeint, sondern am Wissen und der Erkenntnisfähigkeit der Allgemeinheit angelehnt) auf die Wahrheit zusätzlich verstellt, wenn nicht unmöglich macht.
      Ich sage es offen: Diese ganze Blase selbsternannter oder entsprechend aufgebauter «Experten» gehört mit ihrem «Geschwurbel» (diesen Begriff benutzt man gern für Äußerungen von «rechts»; er bezeichnet aber alles, was von solchen Personen, ob «links», ob «rechts», kommt) an den gesellschaftlichen Pranger! Nicht, wie sich seit geraumer Zeit abzeichnet, jene, die der Wahrheit in Gesellschaft und Wissenschaft dienen.
      Das wird immer schlimmer. Wehret den Anfängen…

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      • Majestyk
        7. Februar, 2023

        «Im Sinne des hier zu diskutierenden Artikels ist das nicht.»

        Selbst wenn, was ist an meiner Aussage falsch?

        Eigentlich jeder größere Erkenntnisgewinn wird daduch erzielt, daß man etwas denkt was noch nicht ist. Ob nun Newton, Kopernikus, Gutenberg oder Watts. Jeder der nach Erkenntnis strebt ist ein Suchender. Ein Experte ist aber jemand der behauptet etwas zu sein. Was ich gestern gelernt habe muß morgen nicht veraltet sein, aber es kann. Die Leistung von gestern sagt auch nichts über meine Fähigkeit von morgen aus.

        Jene Experten die vom Artikel beschrieben werden sind ideologischen Ursprungs. Da geht es um Bürokratisierung/ Managergesellschaft = kommunistischer Gesellschaftssteuerung und ziemlich oft auch um Feminismus oder andere Primate der Gleichberechtigung, was ja auch nur sozialistische Ausprägungen sind.

        Wenn man über meine Sichtweise zumindest mal nachdenken würde (was kaum jemand tun wird, schließlich bin ich ja nicht prominent), könnte man zu dem Schluß kommen, daß der Zeitgeist eben nicht nur Zeichen einer Dekadenz ist, sondern in weiten Teilen eben auch gewollt und die aufgehende Saat einer einstigen politischen Unterwanderung.

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    • Skepticus
      5. Februar, 2023

      Es ist nicht das erste Mal, dass ich Ihnen zustimme. Überhaupt fällt mir erneut auf, dass das Leserbrief/Kommentatorenniveau hier recht hoch ist. Gut so.

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  • Peter Feierlein
    4. Februar, 2023

    Ein wichtiger Artikel, geradezu eine Wurzelbehandlung am Zahn der Zeit. Danke!

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  • Alexander Peter
    5. Februar, 2023

    Als kürzlich die selbsternannte(?) «Expertin für Messerkriminalität» die gewünschten Befunde hinsichtlich dieses Tatwerkzeuges und derjenigen, die es «benutzen», lieferten, durfte man in der Tat – bei allem Entsetzen über die jüngst Tat – schmunzeln.
    Das war dann doch Zuviel des Guten.
    Jedoch ist die inflationäre und wundersame Vermehrung von «Experten» speziell zu Themen wie «Corona», «Energie», «Ernährung», «Klima», «Migration», «Mobilität», «Rassismus», «Wirtschaft», «Wohnen» und deren Randbereichen seit längerem zu beobachten.
    Erinnert sicher nicht zufällig an die glorreichen Errungenschaften und Erkenntnisse aus der wundervollen Welt des realen Sozialismus, wo staatliche Propaganda und «die Wissenschaft» realiter ausbleibende Erfolge schön reden sollte. Das glaubten am Ende nicht einmal mehr die Urheber und die dümmsten Parteisoldaten.
    Einen ähnlichen Effekt werden wir in den nächsten Jahren hoffentlich ebenfalls beobachten, denn die Realität wird bekanntlich nicht durch Gesundbeten besser und eine Wende zum Schlechteren in vielen Bereichen spüren die Menschen unmittelbar, da hilft alles Gesäusel von «Experten» nicht.

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  • Thomas
    6. Februar, 2023

    DDR-Demokraten und ihre Experten an den Fleischtrögen der Macht

    Am Sonntagmorgen war ich auf dem Weg zu einer Sportveranstaltung eine Weile mit dem Auto unterwegs und hörte im Radio auf BR24 einer Expertin aus dem ARD Hauptstadtstudio zu,
    https://www.ard-hauptstadtstudio.de/
    die den Leuten beitragsfinanziert (!) erzählte, daß Hans-Georg Maaßen „rassistisches und antisemitisches“ Zeug von sich gebe. Nun wird sich wohl auch in der CDU eines dieser „klingenden Beile“ finden.
    Ich halte so etwas allerdings für ziemlich öde Veranstaltungen, auch wenn sie sich expertengestützt geben.

    Wohl der Demokratie, die solche Experten hat. Und Medien, die den Experten-Markt so gut überblicken, dass sie bei deren Auswahl stets die richtigen finden. Dass die Bundespolizei zu ganz anderen Zahlen kommt als die Messer-Fachfrau, erklärt sich übrigens ganz einfach: Dort arbeiten nur Praktiker. Und keine Experten.

    Wo eine Experte da auch ein Praktiker. Experten wissen immer mehr über immer weniger, bis sie am Ende von nichts alles wissen. Die Praktiker erledigen den Rest, und das liegt an der Hierarchie. Derlei Hierarchie stand in Deutschland schon immer in Blüte. Mancherorts reifte das zu enormen, historisch einzigartigen Früchten heran – und nach der Reife kommt nun mal die Fäule. Beispielsweise könnte man in den zwei Sätzen „Wir sind mit den Russen im Krieg“ und „Wie sind keine Kriegspartei“ einen Widerspruch … meinen. Allerdings gibt man damit dann heute zu erkennen, daß man erstens kein „Experte“ und zweitens wohl „rechts“ ist.

    Daß die Lage so ist, das hat nach meinem Dafürhalten etwas mit dem herrschenden Grünfaschismus zu tun und daß die Grünen ihre faulen Früchte im Lande so erfolgreich verkaufen dürfen. Es funktioniert so gut, weil dieser grüne Faschismus heute im Gewand der „Menschenrechte“ im Lande herumstolzieren und dabei seine politischen Gegner unterdrücken und stumm machen darf. Und das kommt daher, weil politische Gegner sich dann praktisch gegen die Menschenrechte der Grünen einsetzen, sagen Experten. Eine Bewegung an der Macht hat die Mittel dazu, das durchzusetzen – zwar heute ddr-demokratisch, aber immerhin.

    Bei diesen Spielchen darf die CDU/CSU heute noch mitspielen, aber eben nur so lange, wie sie die politischen Reinheitsgebote der Bewegung einhält.
    https://jungefreiheit.de/kultur/medien/2023/wdr-moderator-ruft-zu-hass-auf/
    Naturgemäß blüht das auch den Liberalismus-Darstellern von der FDP, denn auch diese dürfen unter den DDR-Demokraten noch mitspielen – wenn sie der Bewegung nicht im Wege sind. Noch, denn beispielsweise hat man ja in Thüringen gesehen, was demokratische Wahlen in der BRD unter politischen DDR-Bedingungen wirklich wert sind. Gewisse Experten können das naturgemäß begründen.
    Und die AfD darf heute (gruppenbezogen) sowieso jeder schmähen wie er will.

    Als Krönung sind natürlich auch vor Gericht heute alle gleich, denn Experten gibt es natürlich auch vor Gericht. 🙂
    „Gerichte sind widerliche, ekelhafte, menschenverachtende Scheißmaschinen, die täglich Menschenleben zerstören. Ich verachte euren Scheißverein und dieses Scheißsystem zutiefst.“
    https://jungefreiheit.de/kultur/gesellschaft/2023/klima-richterin-beleidigt/
    Würde so was mal ein „Rechter“ vor Gericht sagen, der (nehmen wir mal an), ein Buch von Hans-Georg Maaßen in seinem Bücherschrank (oder ihm mal eine eMail geschrieben) hätte , dann wäre aber wieder mal richtig was los, unter den Experten im Blätterwald. Aber so, …. Vermutlich handelt es sich um eine politische Spaßgesellschaft. Was da für Bücher im Schrank stehen, spielt dann keine Rolle.

    Vermutlich hat der Herr Maaßen bezüglich Messer, Grenzen oder Deutschland dann wohl so etwas wie „Autobahn“ gesagt, und er soll deshalb nun die CDU verlassen, sagen „Experten“. Nun, auch bei Eva Herman waren 2007 sofort diverse „Experten“ zur Stelle, als ihr mal ein Satz … „verrutscht“ war.
    https://www.zdf.de/nachrichten/politik/annalena-baerbock-kriegserklaerung-ukraine-krieg-russland-100.html
    Bei Frau Baerbock ist so etwas natürlich was gaanz anderes. Vor dem Gesetz und vor Gericht sind eben alle gleich. 🙂 🙂

    Und selbstverständlich käme heute keine Zeitung der Bewegung auch nur auf die Idee, eine Frage wie beispielsweise „Ist so eine Vökerrechtlerin der Herzen eigentlich grün oder nur doof?“ als zulässige Meinungsäußerung (Landgericht Köln) zu verkaufen. Im besten Deutschland ever. Die Frau Herman war an ihrem Unglück eben selber schuld … 🙂 🙂 🙂
    Tja. Die Experten marschieren heute ins Grüne.

    Was kann man da als BRD-Demokrat also noch tun?

    Übrigens sind am kommenden Sonntag Wahlen in Berlin,
    https://www.wahlrecht.de/termine.htm
    im Mai in Bremen und Schleswig-Holstein
    und im Oktober in Bayern und Hessen.
    Wohl bekomms.

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  • Werner Bläser
    6. Februar, 2023

    Update: Wo es gerade in der Presse um Maaßen geht. Jetzt habe ich einige Stunden damit verbracht, im Internet nach antisemitischen Äusserungen von ihm zu suchen. Denn die Presse scheint sich in weiten Teilen einig zu sein, dass er solche regelmässig von sich gibt. Ich verachte Antisemiten und Rassisten.
    Aber, o Wunder, ich habe bislang keine solchen Äusserungen gefunden. Und ich verachte nicht nur Antisemiten, sondern auch Lügner und Verleumder.
    Gefunden habe ich haufenweise Antisemitismus-«Experten», die irgendwelche Narrative verbreiten, dass dieser oder jener ein Antisemit sei. Merkwürdigerweise fanden sich darunter keine Linken, keine Islamisten und auch keine Mitglieder der BDS-Kampagne. Und auch keine Spitzenpolitiker der Grünen, die z.B. für die entsprechenden antisemitischen Vorfälle auf der ‘documenta’ federführend wären.
    Ich bin normalerweise kein Fanatiker – mit einer Ausnahme: Ich hasse es, wenn Wissenschaft für Lügereien, Manipulationen, Verdrehungen, Verschweigen von Tatsachen, Umdeutungen von Realität missbraucht wird. Der Leidensdruck durch das, was heute aber in dieser Hinsicht in Deutschland passiert, ist immens.
    – Es erinnert mich an Nietzsche. Wer sich einen Einstieg in diesen Lesenswerten verschaffen will, sollte den ganz netten Wikipedia-Artikel «Umwertung aller Werte» lesen (ich weiss, was Ihr sagen wollt, aber es gibt in Wikipedia auch recht gute Artikel – und niemand ist ja gehindert, die Orginal-Quellen zu lesen). Zitat:
    «In der modernen Welt seiner Zeit konstatierte Nietzsche einen Niedergang der Kultur, der sich in einem sich ausbreitenden Werteverlust ausdrückte. Dieser hatte seine Ursachen in der zunehmenden Einsicht, dass einerseits der Begriff der Wahrheit inhaltlich nicht zu füllen war (‘Nichts ist wahr, alles ist erlaubt…’), und andererseits der Glaube an einen Gott… immer mehr verloren ging.»
    Nietzsche hätte sich wohl nicht vorstellen können, dass seine Vorstellung vom Tod der Wahrheit sich so extrem darstellen könnte, wie wir es heute sehen. Wahrheit verkommt heute zu einer reinen Definitionsfrage.
    Beispiel: Die Frage, ob es «Rassen» gibt oder nicht, ist rein logisch gesehen relativ sinnlos. Erkenntnistheoretische und linguistische Kategorien sind interkulturell und sogar interpersonell verschieden, allerdings konstituieren einige wenige auch kulturelle Universalien. Gibt es die 20plus Schneesorten, die Eskimos definieren? Es kommt darauf an, wie man die Perspektive ansetzt.
    Gibt es die Grundfarben, die Westeuropäer und Amerikaner üblicherweise kennen? Oder nur die wenigen Farb-Begriffe, die Hopi-Indianer und andere Naturvölker kennen?
    Die Frage ist erkennbar unsinnig. Denn es kommt auf das Interesse des Betrachters bzw. seiner Kultur an. «Rassen» gibt es also, wenn man sie betrachten will. Will man das nicht, dann existieren sie auch nicht – für den jeweiligen Betrachter.
    So weit die Konsequenzen von «Kultur-Relativisten» wie Franz Boas, Margaret Mead, Ruth Benedict.
    – Also: Jeder kann glauben, was er will, alles ist «wahr»?
    Nach Malinowskis Klassiker (‘The Sexual Life of the Savages of North-Westen Melanesia’) glaubten die Einwohner der Trobriand-Inseln sogar, dass Schwangerschaft nichts mit Sex zu tun habe. Man könnte sagen: Wir bewegen uns langsam wieder auf das intellektuelle Level dieser Art Gesellschaft zu.
    – Aber es gibt eben auch kulturelle Universalien, und vor allem auch die Realität jenseits der Definitionen. Einen Toten als «lebend» zu definieren, ändert wenig an seinem Zustand (jeder kann dies ausprobieren, wenn er eine Leiche zur Hand hat).
    Hätten die Trobriander nicht gevögelt, wären sie ausgestorben, egal, welche Gründe für Schwangerschaft sie phantasierten.
    – Dass es keine Geschlechter gibt, kann man zwar definieren – was aber nicht mehr heisst, als dass man sie sozial als unwichtig betrachtet. Man kann auch sagen, dass «Mütter» gebärende menschliche Einheiten sind. Ebenso wie eine Kuh eine «rauhfutterverwertende Grossvieheinheit» ist.
    Experten, die so etwas propagieren, finden sich immer. Ebenso, wie es vor einigen Jahrzehnten «Experten» gab, die «nachwiesen», dass Deutschland ein «Volk ohne Raum» sei.
    Offenbar ist es so, dass die Wahrheit in dem Maße verlorengeht, in dem es eine Inflation von «Experten» gibt.
    Und die Gründe für eine solche Inflation sind ganz einfach: Überproduktion von «Billig-Produkten». Wenn es zu schwierig und zu aufwendig ist, einen Experten «herzustellen» (oder ein solcher zu werden), dann definiert man halt irgendwelche Idioten zu Experten:
    Problem gelöst. Nur an der bösen Realität ändert sich nichts.

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  • A. Iehsenhain
    6. Februar, 2023

    Meike Spitzner suggeriert in „Die männliche Stadt“, dass alle Frauen Kinderwagen schieben, Einkaufstaschen tragen oder Rollstuhl fahren? Das klingt nach Astronautenkrankheit in der Magnetschwebebahn. Vielleicht saß ja Elena Rausch ein Abteil weiter und schrieb gerade, unter schwerer Gehirnlast, ihre eigene Interpretation von Bundesinnenvernichterin Faesers Beweislastumkehr auf, aus der Sicht der Messer/Täter/Opfer-Perspektive – demzufolge machen sich anscheinend die letal getroffenen Opfer letztendlich schuldig, „psychisch Labile“ zu einem Tötungsdelikt provoziert zu haben, indem sie sich schlicht und einfach nur zufällig begegneten. Dieses Problem lässt sich aber mit Sicherheit dadurch lösen, dass die Zwangserdolchten dann in die Suizid-Statistik einfließen. Den nur Schwerverletzten kann nach der Entlassung aus dem Krankenhaus der Prozess gemacht werden. An die „psychisch labilen Täter“ müssen sie in der Folge Schmerzensgeld für den Aufenthalt im Luxus-Sanatorium zahlen. Womöglich wird in Zukunft auch statistisch unterschieden, wie viele Messer steckengeblieben sind und welche lediglich Schnittwunden hinterlassen haben, letzteres nochmals unterteilt in Wunden-Oberflächlichkeit- und Tiefe, und ob es sich um Solinger Stahl oder orientalischen handelte. Eines versäumen freilich die sogenannten „Experten“ – im Rahmen der Sprachbereinigung nicht nur Begriffe bis zur verbalen Obstipation zu ergänzen, sondern auch auszudünnen. Zum Beispiel an der Selbst-Titulierung sparen – denn da würde das französische „perte“ schon völlig ausreichen…

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Original: Von Stichforschern und anderen Narrativkräften

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