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Politik, Gesellschaft & Übergänge

Das Spielzeug muss unter die Decke

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Wie gehen andere Länder mit Covid-19 um? Belgien ist nach wie vor das Land mit der weltweit höchsten Todesrate pro Einwohner. Die Regierung verordnet dem Land eine verwirrende Teilstillegung – bisher ohne durchschlagenden Erfolg. Archi W. Bechlenberg beschreibt, wer was (nicht) darf. Und warum Supermärkte einen Teil ihrer Waren verstecken

Von Redaktion / / politik-gesellschaft / 9 min Lesezeit

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Von Archi W. Bechlenberg

„Das ist ja hier wie bei uns zur Pessach-Zeit“ sagt Freund Joshi und verdreht die Augen.

„Wieso? Gibt es bei Colruyt jetzt auch Gefilte Fisch?“ frage ich zurück, und Joshi verdreht die Augen um weitere 180 Grad.

„Ahnungsloser! Pessach, das ist eins der wichtigsten jüdischen Feste! In der Woche zuvor darf nichts Gesäuertes im Hause sein, nicht einmal Staub und Krümel von Brot, und überhaupt nichts, das aus bestimmten Getreiden hergestellt wird.“

„Kein Bier? Kein Whisky? Grundgütiger! Und was hat das jetzt mit dem belgischen Edelsupermarkt bei mir im Dorf zu tun?“

„Na, als ich heute den Colruyt besuchte, waren ganze Abteilungen mit Planen verhängt oder abgedeckt. Das macht man in Israel genau so mit den zur Pessach-Zeit verbotenen Speisen!“

„Und was machen die Israelis, denen religiöse Vorschriften am Derrière vorbei gehen?“

„Die kaufen ihr Brot so lange beim Araber.“

In der Tat – wer zur Zeit des zweiten Lockdowns in Belgien einkaufen geht, erlebt Ähnliches allenthalben. Da ganze Branchen zwangsstillgelegt wurden, dürfen aus staatlich verordneter Solidarität Geschäfte, deren hauptsächliches Angebot – Lebensmittel – zur unverzichtbaren Lebensführung gehört, die aber auch manches Nichtessbare verkaufen, nun nicht mehr mit Verzichtbarem handeln. Bei Aldi, Lidl oder Colruyt gibt es daher vorerst kein Spielzeug mehr, keine Hausschuhe, keine Weihnachts-CDs, keine Federkissen. Nur Kerzen sind erlaubt. Um nicht alles wegräumen zu müssen, hat man die Ware daher auf unabsehbare Zeit abgedeckt. So wie in Israel das Saure.

Wer behauptet, es seien überwiegend (wenn nicht ausschließlich) wurstige Beamte in Verwaltungen und Ministerien zugange, hat keine Ahnung davon, mit welcher Akribie an Maßnahmenkatalogen für den Kampf gegen das tödliche Virus gearbeitet wird. Ich möchte jedenfalls nicht in nächtelangen Sitzungen mit Experten darüber beraten müssen, ob ein Architekt weiterhin eine Hausbegehung durchführen darf (er darf), ob Babyausstattungsgeschäfte offen sein dürfen (sie dürfen, sofern sie nur Hygiene- und Pflegeprodukte verkaufen, aber keine Kleidung, Spielzeug, Kinderwagen, Möbel), ob Ausstellungsräume von Großhandelsgeschäften betreten werden dürfen (nur von Gewerbetreibenden) und ob Optiker und Hörgeräteakustiker geöffnet haben können (ja, da sie medizinische Hilfsmittel anbieten).

Gastronomische Betriebe? Zu, alles zu. Dürfen Heimwerkermärkte offen bleiben? (Ja, sofern sie keine Gartenmöbel zum Verkauf anbieten). Dürfen Fotografen noch ihre Dienste anbieten? (Nein, außer, sie knipsen Bilder, die für Ausweispapiere und andere erforderliche Unterlagen notwendig sind). Dürfen Friseure noch Menschen und Pudel scheren? (Nein. La Petite Fiffi kann auch mal ein paar Monate wie eine Wollmaus aussehen). Was ist mit Nightshops? („Unter Nightshop versteht man eine Niederlassungseinheit, deren Nettohandelsfläche 150 m² nicht überschreitet, die keine anderen Tätigkeiten als den Verkauf von Lebensmitteln und Haushaltswaren ausübt und die ständig und sichtbar die Aufschrift “Nightshop” trägt.“) Die dürfen bis 22 Uhr offen sein. Und Tankstellen? „Tankstellen und angrenzende Geschäfte werden nicht als Nightshops betrachtet und müssen daher nicht um 22 Uhr schließen.“

Aber wie verträgt sich das mit der ohnehin gültigen Ausgangssperre ab 22 Uhr? Die gilt nämlich nicht nur für Ausgänge, sondern auch für Ausfahrten. Auf wen wartet der Tankwart dann nach 22 Uhr? Darauf, dass er ab 6 Uhr am nächsten Morgen nach Hause darf?

Für Gerichtsvollzieher gibt es zum Glück kein Berufsverbot. Und auch Zentren zur Selbstmordprävention (vermutlich bald noch überlaufener als Intensivstationen) können weiterhin Gutes tun, die Mitarbeiter müssen nur die Maßnahmen des Social Distancing einhalten. Jemanden durch ein persönliches Gespräch vor Ort im letzten Moment vom Dach oder der Brücke holen – das geht vorerst nur aus sicherer Entfernung.

Wer seinen Kummer lieber ertränken möchte, muss vorplanen: Der Verkauf alkoholischer Getränke ist zwischen 20 Uhr und 5 Uhr verboten. Was aber sowieso kaum anders möglich wäre, da ja die allgemeine nächtliche Ausgangssperre herrscht. Die wird landesweit streng überwacht, außer in gewissen Stadtteilen von Brüssel, zum Schutz der Polizei vor den Anwohnern. Es gab bereits etliche Verletzte (Polizisten, nicht Anwohner).

Man sieht: Es haben Experten in endlosen, Tag und Nacht währenden Sitzungen daran gearbeitet, einen Maßnahmenkatalog zu erstellen, der allen Eventualitäten gerecht wird. Ich habe nur einen ganz kleinen Teil der Ge- und Verbote aufgeführt. Das ganze Regelwerk kann hier studiert werden.
Bin ich froh, dass ich damit nichts zu tun hatte als anerkannter Nichtexperte.

Die auch in Belgien erfolgreich tätige Firma Aldi musste in den letzten Tagen einen besonderen Shitstorm über sich ergehen lassen. Da man die 32 Seiten des wöchentlich landesweit erscheinenden Prospektes ohne die nichtkoscheren Produkte nicht mehr voll bekam, hatte man die verhängnisvolle Idee, ihn einfach halbe-halbe mit der flämischen und der französischen Version zu drucken. Aus beiden Landesteilen gab es empörte Proteste. Das ginge ja nun gar nicht, eine Postwurfsendung, in der die Sprache dieser anderen Typen zu lesen sei! Wo käme man denn da hin? Aldi versuchte sich auf einen Fehler in der Druckerei rauszureden. Da konnten sie aber was erleben.

Ich bin gespannt, wie der nächste Prospekt aussehen wird. Er liegt Dienstag im Briefkasten. Der Briefträger darf nämlich noch kommen. Sofern er die Maßnahmen des Social Distancing einhält.