– Publico –
Politik, Gesellschaft & Übergänge

Obdachlose Literatur

Original post is here eklausmeier.goip.de/wendt/2020/01-obdachlose-literatur.


In Dresden kündigte ein Verein kurzfristig die Räume für eine schon zugesagte Lesung Uwe Tellkamps aus dessen noch unveröffentlichtem Roman. Begründung: Das Buch gefährde die „Neutralität“ des Vereins

Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 13 min Lesezeit

stdsize

Am 9. Januar sollte Uwe Tellkamp eigentlich aus seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman im Dresdner Lingnerschloss lesen. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Zeitschrift „Tumult“. Das literarische Ereignis wird nicht stattfinden, jedenfalls nicht am 9. Januar und nicht am vorgesehenen Ort.

Sechs Tage vorher erhielt Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann ein Schreiben von den stellvertretenden Vorsitzenden des Fördervereins Lingerschloss mit der Kündigung des am 20. Dezember 2019 zugesagten Raums. Bemerkenswert fällt die Begründung aus. „Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass die von Ihnen beabsichtigte Vortragsreihe in unseren Räumen nicht stattfinden kann“, so der Verein: „Nach unserer Überzeugung und dem Neutralitätsgebot des Fördervereins Lingnerschloss ist Ihre beabsichtigte Vortragsreihe für unsere Einrichtung nicht geeignet.“

Es mute „merkwürdig an, dass belletristische Werke unter ein ‚Neutralitätsgebot’ fallen könnten“, kommentierte Böckelmann die plötzliche Kündigung.
Bei Tellkamp handelt es sich um einen der bekanntesten deutschen Gegenwartsautoren; für einen Auszug aus seinem späteren Roman „Der Turm“ erhielt er den Bachmann-Preis, für den bei Suhrkamp erschienen Roman den Deutschen Buchpreis. Als er 2018 in einem öffentlichen Streitgespräch mit dem Autor Durs Grünbein die Migrationspolitik der Bundesregierung kritisierte, wurde Tellkamp zwar mit Etiketten wie ‚umstritten’ und ‚rechts’ versehen. Besonders auf sein Wort von „Gesinnungskorridoren“, die sich in Deutschland verengen, reagierten etliche Journalisten mit Erregung und Ablehnung. Meist versahen sie den Begriff „Gesinnungskorridor“ mit dem Zusatz „angeblich“. Sein Verlag distanzierte sich nach der Diskussionsveranstaltung mit Grünbein von Tellkamp. Aber eine schon geplante Lesung des Autors war bisher noch nicht verhindert worden.

In seinem Schreiben erklärte der Lingnerschloss-Verein nicht, in welcher Weise der noch unveröffentlichte neue Roman Tellkamps – eine Fortsetzung des Turms – seine Neutralität gefährde, und wie er sich eine vereinskonforme Neutralität von Literatur vorstellt. Merkwürdig scheint auch, dass seinen Mitgliedern diese Gefährdung erst sechs Tage vor der Lesung auffiel.

Mit der Absage durch den Lingnerschloss-Verein gegenüber Tumult findet auch eine zweite geplante Veranstaltung nicht statt: Am 13. Februar wollte der Althistoriker Egon Flaig dort aus seinem neuen Buch „Was nottut. Plädoyer für einen aufgeklärten Konservatismus“ lesen.
Einen Ersatz für die gekündigten Räume gibt es bisher noch nicht.

Tellkamps Roman „Der Turm“ erzählt von einer bildungsbürgerlichen Insel in der DDR, die im Stadtviertel Weißer Hirsch dem Druck von außen widersteht. Das Buch trägt den Untertitel „Geschichte aus einem versunkenen Land“. Es handelt von Figuren in einem Staat kurz vor dessen Zusammenbruch, gleichzeitig ist „Der Turm“ ein Dresden-Roman, eine Art historisches Panorama der Stadt.
Die Fortsetzung dieser Heimatliteratur wird jetzt, wie es aussieht, in Dresden obdachlos.

„Was soll man sagen?“, kommentierte Tellkamp den Vorgang: „Es gibt keine Gesinnungskorridore. Nur enge Wände.“

Erscheinen soll der neue Roman des Autors im Herbst 2020. „Davon gehe ich aus“, sagte Tellkamp im August 2019 in einem Interview mit dem Magazin Tichys Einblick.

Demnächst wird sich also jeder Interessierte ein Bild machen können – so oder so.

22 Kommentare
  • caruso
    5. Januar, 2020

    Eine große Sauerei, eine noch größere Dummheit, allergrößte Engstirnigkeit… einzeln oder alle zusammen… wie soll ich das Verhalten des Lingnerschloß- Vereins nennen?
    Furchtbar, was in diesem Land läuft! Wie tief wird dieses Land noch sinken? Wird es von dort wieder auftauchen können, gesunden? Ich hoffe es aus tiefster Seele (dabei bin ich keine Deutsche), zugleich habe ich große Zweifel. Wie froh wäre ich, würde es sich herausstellen, daß die Zweifel unnötig waren!
    lg
    caruso

    Auf diesen Kommentar reagieren

    • Dr. habil. W. Manuel Schröter
      7. Januar, 2020

      Lieber Caruso, wie soll man das Verhalten des Lingnerschloß-Vereins nennen? Ich kann es Ihnen sagen: Furcht ist das, einfach Furcht vor den Konsequenzen, vielleicht, ich spekuliere jetzt, noch zusätzlich verstärkt durch eine direkte Andeutung entsprechender Kreise, dass eventuelle Fördermittel für die weitere Restaurierung des Gebäudes gestrichen werden.
      Soweit sind wir hier schon lange. Und der Korridor wird immer enger, weil viele derjenigen, die mit diesen Dingen von der Vortragsreihe bis zur Vermietung der Räume dafür und von der Ausreichung der Fördermittel bis zur Prüfung politischen zeitgemäßen Wohlverhaltens selbst in der Angst leben müssen, es irgendwelchen anderen, übergeordneten Großkopfeten nicht recht zu machen.
      Auf nach 2020, in die «Schöne neue Welt» politischer Korrektheit: Sie wird wachsen und gedeihen und mit ihr Angst um die Existenz in einem zunehmend politisch verrohenden Land, nicht nur in einem verzweifelt im Kampf gegen Rechts stehenden Sachsen (kann Spuren von Ironie enthalten).
      Freundliche Grüße und ein erfolgreiches neues Jahr allen Lesern.

      Auf diesen Kommentar reagieren

  • Andrenio
    6. Januar, 2020

    Im Bereich des realen Sozialismus (Achtung! DIeser ist nicht untergegangen. Im Gegenteil, er expandiert derzeit weltweit) gab es Samisdat, Untergrundkirche.

    Wir sind auf dem Weg dorthin. Die Wände sind gefährdet, denn der Korridor ist versperrt. Demnächst also Lesung unter freiem Himmel. Warum nicht?

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Heinz
    6. Januar, 2020

    Aber gerade wenn man “neutral” ist, kann man doch alle Seiten zu Wort kommen lassen. In englisch hört sich das noch deutlicher an : „Get a chance to speak“. Aber der Verein meint wahrscheinlich mit neutral sein, dass man keiner Meinung eine Plattform bietet, also nur eine Nichtmeinung zulassen kann. Eine regierungskritische geht da schon garnicht. Da fällt mir noch ein Lied ein „Die Partei (Regierung), die Partei (Regierung), die hat immer recht…..“

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Jens Richter
    6. Januar, 2020

    Auf quälend ironische Weise wiederholt das neue Deutschland den Roman «Der Turm» auf einer Metaebene: nur eine winzige Minderheit, Turmbewohner eben, kümmert das, was in Deutschland seit Jahren passiert. Was mit Tellkamp und anderen geschieht, zieht unbemerkt am Fernsehglotzer vorbei.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Chris Groll
    6. Januar, 2020

    Wie weit ist es in Deutschland schon gekommen?? Schriftsteller werden diskreditiert und ausgeschlossen, weil sie nicht die linksideologische Staatsdoktrin vertreten. Wie lange wird es noch dauern, bis deren Bücher verboten bzw. verbrannt werden. Hinterher will es wieder keiner gewesen sein und niemand hat irgendetwas gewußt. Man sieht den Niedergang ja auch bei allen ÖR-Sendeanstalten.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • cees
    6. Januar, 2020

    In Tübingen wachen die (Schlagenden) Verbindungen auch über den entsprechenden Geist ihrer Villen, Schlösser usw. und lassen nicht jeden dort irgendetwas machen. So scließt sich der Kreis der «engen Korridore» in den Hirnen der (eingetragenen) Vereine, die mit Stuergeldern generös gefördert werden.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • oldman
    6. Januar, 2020

    Sooo sieht also Neutralität bei den Bessermenschen aus. Alles klar. Überzeugter Irrsinn kennt wirklich keine Grenze. Ganz besonders bei der Ausgrenzeritis gegenüber Leuten, die noch selbst zu denken wagen und tatsächlich etwas zu sagen hätten.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Albert Schultheis
    6. Januar, 2020

    Wenn der von teutonischen Idioten ausgegrenzt wird, dann ist das eine Empfehlung! Bin gespannt zu erfahren, wann und wo der Roman zu kaufen sein wird.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Petersen
    6. Januar, 2020

    Auch dieser Zensurversuch wird den linken «Aktivisten» auf die eigenen Füsse fallen, denn dank der Internet-Medien kann nichts mehr unterdrückt werden.

    Und einen Verleger wird Tellkamp auch für sein neues Buch finden, auch wenn es wohl nicht der früher renommierte Rowohlt ist.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Andreas Fuchs
    6. Januar, 2020

    «Wenn du gegen den Strom schwimmst, merkst du erst mal, wie viel Dreck dir da entgegenkommt» – Uwe Steimle

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • FunktionsElite
    6. Januar, 2020

    Das Totalitäre frisst sich häppchenweise ins Öffentliche, natürlich unter der Serviette des Guten und im Stil des Wohlfahrtsausschusses der französischen Revolution.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Dreggsagg
    6. Januar, 2020

    Der linksgrüne Zeitgeist schlägt wieder zu!

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Plutonia
    6. Januar, 2020

    Bevor man sich jetzt über «enge Wände» aufregt, sollte man erst einmal gründlich prüfen, ob nicht längst eine neue Bundesprüfstelle für deutschsprachige Literatur oder ein Bundesamt zur Überprüfung und Einhaltung von Neutralitätsgeboten bezüglich deutscher Belletristik aus dem Boden gestampft wurde. Es werden ja auch immer wieder hinter dem Rücken der Öffentlichkeit irgendwelche Gesetze verabschiedet, diverse «unverbindliche» Pakte geschlossen oder Arbeitsplätze für Hochrotqualifizierte geschaffen, worüber die Qualitätsmedien dann selten bis gar nicht berichten. Vielleicht weiß der Dresdner Lingnerschloss-Verein ja einfach mehr als wir Normalbürger. Herr Böckelmann und Herr Tellkamp waren wahrscheinlich einfach nur nicht darüber informiert, dass sie diesen bisher unveröffentlichten Roman zuvor auf «Neutralität» hätten prüfen lassen müssen, um eine Lesung (egal wo) genehmigt zu bekommen.

    Auf diesen Kommentar reagieren

    • Gerhard Sauer
      8. Januar, 2020

      In der Unverbindlichkeit der Pakete liegt das Problem. Mir wäre lieber, sie würden verbindlich, d. h. mit starken Schnüren und mit den Hochrotqualifizierten als Inhalt zugebunden und nach Nordkorea adressiert.

      Hochrotqualifizierte ist eine treffende Wortschöpfung, mein Glückwunsch.

      Auf diesen Kommentar reagieren

      • Plutonia
        9. Januar, 2020

        «Ich weiß nicht, ob das Leben zu wenig ist für mich oder zu viel.» (Fernando Pessoa)
        Ist man in diesem Konflikt derzeit beheimatet, kann man Glückwünsche jedoch immer gebrauchen.
        Danke dafür, lieber Herr Sauer!

        Auf diesen Kommentar reagieren

  • H.-J. Pöschl
    6. Januar, 2020

    Er hat «Jehova» gesagt und die obrigkeitshörige Meute steinigt ihn.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Ralf
    6. Januar, 2020

    Wie lange wird es noch dauern, bis in Deutschland wieder Bücher brennen?
    Gibt es jetzt wieder «Schmutz und Schundliteratur» wie zu DDR Zeiten?

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • pantau
    6. Januar, 2020

    Mir fällt dazu nur die Nazi-Definition von Arno Schmidt aus «Aus dem Leben eines Fauns» ein:
    «Ein Nazi ist einer, der einem auf die Fresse haut und dabei brüllt, er verabscheue Gewalt».

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Gastino
    6. Januar, 2020

    Neutralität kann zweierlei bedeuten: Das Ablehnen jeglicher politischer Äußerung oder das Zulassen aller Meinungen. Dazwischen gibt es nichts.

    Ich vermute, die Begründung ist eher eine aus der Not geborene, ebenso hätte man ein undichtes Dach, einen feuchten Keller oder eine verstopfte Toilette anführen können. Literarisch wertvoller wäre es aber gewesen, die Ablehnung mit «Nachts ist es kälter als draußen» zu begründen.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • André Dreilich
    8. Januar, 2020

    In einem Gespräch mit der Sächsischen Zeitung begründete Uwe Tellkamp seine Unterschrift der Charta 2017 mit den Worten «Wir leben wieder im betreuten Denken. Die Denkwebel sind wieder am Werk.» Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass der Artikel http://www.sz-online.de/nachrichten/kultur/wir-leben-wieder-im-betreuten-denken-3802635.html?CommentPage=1 bei der SZ nicht mal mehr per Suchfunktion aufzufinden ist.

    Auf diesen Kommentar reagieren

  • Theophil
    11. Januar, 2020

    Die Sorge um die Neutralität ist das Feigenblatt, hinter dem sich die Angst verbirgt, nämlich die Angst, dass am Abend der Lesung ein sogenanntes «breites gesellschaftliches Bündnis» vor dem Tor aufkreuzt und den «Kampf gegen Rechts» aufnimmt. Eine Angst, die Hoteliers, die AfD-Delegierte beherbergen, Gastwirte, die AfD-Mitgliedern Bier ausschenken und viele andere inzwischen bestätigen können. Mit ähnlich fadenscheinigen Begründungen wurden Anfang der 30er wohl auch jüdische Vortragsredner ausgeladen. Zu Recht hatte man Angst, dass die SA-Truppen das Mobiliar kurz und klein schlagen würden. Die wohl von Ignazio Silone stammende Vorhersage, dass der Faschismus, wenn er wieder kommt, behaupten werde, er sei der Antifaschismus, scheint sich immer mehr zu bestätigen.

    Auf diesen Kommentar reagieren

Original: Obdachlose Literatur

Liebe Leser von Publico: Dieses Onlinemagazin erfüllt wie eine Reihe von anderen Medien, die in den letzten Jahren entstanden sind, eine zentrale und früher auch allgemein selbstverständliche publizistische Aufgabe: Es konzentriert sich auf Regierungs- und Gesellschaftskritik. Offensichtlich besteht ein großes Interesse an Essays und Recherchen, die diesen Anspruch erfüllen. Das jedenfalls zeigen die steigenden Zugriffszahlen.
Kritik und Streit gehören zur Essenz einer offenen Gesellschaft. Für einen zivilisierten Streit braucht es gut begründete Argumente und Meinungen, Informationen und Dokumentationen von Fakten. Publico versucht das mit seinen sehr bescheidenen Mitteln Woche für Woche aufs Neue zu bieten. Dafür erhält dieses Magazin selbstverständlich kein Steuergeld aus dem Medienförderungstopf der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, kein Geld aus dem Fonds der Bundeszentrale für politische Bildung (obwohl Publico zur politischen Bildung beiträgt) und auch keine Überweisungen von Stiftungen, hinter denen wohlmeinende Milliardäre stehen. Ganz im Vertrauen: Publico möchte dieses Geld auch nicht. Die einzige Verbindung zu diesen staatlichen Fördergeldern besteht darin, dass der Gründer des Magazins genauso wie seine Autoren mit seinen Steuern dazu beiträgt, dass ganz bestimmte Anbieter auf dem Medien- und Meinungsmarkt keine Geldsorgen kennen. Es gibt nur eine Instanz, von der Publico Unterstützung annimmt, und der dieses Medium überhaupt seine Existenz verdankt: die Leserschaft. Alle Leser von Publico, die uns mit ihren Beiträgen unterstützen, machen es uns möglich, immer wieder ausführliche Recherchen, Dossiers und Widerlegungen von Falschbehauptungen anzubieten, Reportagen und Rezensionen. Außerdem noch den montäglichen Cartoon von Bernd Zeller. Und das alles ohne Bezahlschranke und Abo-Modell. Wer unterstützt, sorgt also auch für die (wachsende) Reichweite dieses Mediums.
Publico kann dadurch seinen Autoren Honorare zahlen, die sich nicht wesentlich von denen großer Konzernmedien unterscheiden (und wir würden gern noch besser zahlen, wenn wir könnten, auch der unersetzlichen Redakteurin, die Titelgrafiken entwirft, Fehler ausmerzt, Leserzuschriften durchsieht und vieles mehr).
Jeder Beitrag hilft. Sie sind vermutlich weder Claudia Roth noch Milliardär. Trotzdem können Sie die Medienlandschaft in Deutschland beeinflussen. Und das schon mit kleinem Einsatz. Der Betrag Ihrer Wahl findet seinen Weg via PayPal – oder per Überweisung auf das Konto 
(Achtung, neue Bankverbindung!) A. Wendt/Publico DE88 7004 0045 0890 5366 00, BIC: COBADEFFXXX
Dafür herzlichen Dank.

Die Redaktion