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Politik, Gesellschaft & Übergänge

Der Wochenrückblick: Toxische Männlichkeit auf dem Bierbike

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Von Alexander Wendt / / politik-gesellschaft / 10 min Lesezeit

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Wir müssen ein wenig zurückgreifen, nämlich bis zur Silvesteransprache von Dr. Angela Merkel. Dort redete die Kanzlerin erwartungsgemäß nicht nur über große Dinge („Dabei kann der Leitgedanke der Sozialen Marktwirtschaft, dass wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Zusammenhalt zwei Seiten einer Medaille sind, auch in der Zeit des digitalen Fortschritts unser Kompass sein“), sie sprach auch mikrosoziologische Verhältnisse an: „Es gibt zu viele Menschen, …die nicht mit dem Tempo unserer Zeit mitkommen. Die sich sorgen, dass es zu viel Kriminalität und Gewalt gibt“.

Der Topos, dass es ein objektives Tempo gibt, mit dem unsere Zeit in eine determinierte Richtung voranschreitet, ist ein geradezu lupenrein marxistisch-leninistisches Geschichtsdenken, ebenso wie die Kritik an denjenigen, die dabei nicht schnell genug mitkommen wollen. In der DDR hieß es dazu: aus bürgerlicher Beschränktheit.

Es geht ja auch im schwindelmachenden Sauseschritt voran, von der Abriegelung der Weihnachtsmärkte mit im Ernstfall völlig wirkungslosen Betonbarrikaden über die Frauenschutzzelte zu Silvester, die hierzulande im Gegensatz zu Saudi-Arabien immerhin stationär sind und nicht mobil, bis zu der Feststellung, dass der Staat bei Altersangaben seiner Neubürger leider nur raten kann.

Wer bei so viel Tempo nicht selbst mitkommt, so der Subtext der amtierenden Dialektikerin im Kanzleramt, der muss eben von ihr mitgenommen werden. In dem Augenblick, als ich die Ansprache zu Ende gelesen hatte, flackerte ganz kurz das Wort Mitnahmeselbstmord durch meine Schläfenlappen. Nur für eine Zehntelsekunde, ich schwör.

Natürlich ist das alarmistisch und hetzerisch. Vergessen Sie einfach, was Sie gerade gelesen haben.

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Nicht nur der Spiegel, auch die FAZ macht in dieser Woche mit einem längst nicht ausgeschöpften so genannten Narrativ auf sich aufmerksam, dem so genannten Geschlechterverhältnis. Im Spiegel-Tüttel geht es, wenn ich es aus der Überschrift richtig behalten habe, um Männer- und Frauenbilder sowie um alles andere rund um alle Körperöffnungen vom Scheitel bis zum Schranzl, bei den Frankfurter Kollegen dagegen nur um toxische Männlichkeit. Wahrscheinlich gibt es, auch wenn es sonst keine einfachen Antworten gibt, ausnahmsweise eine einfache Antwort auf die Frage, warum auch 2018 geschätzt tausend Variationen über das „ganze Geschmadder da unten“ (Max Goldt) dräuen: Dieses Thema grenzt wie die Konversation über das Wetter intellektuell niemand aus.

Außerdem bildet das muntere Diskursgemeine über aufzubrechende, schon aufgebrochene und sogar wieder zugeschnappte Geschlechterverhältnisse unter Journalisten die zitternde Kompassnadel auf der emblematischen Medaille unserer temporeichen Zeit, in der alles ungewiss geworden ist bis auf die straff nach rechts unten zeigende Auflagenkurve der Qualitätsmedien.

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Was uns zum nächsten führt: Das Recherchenetzwerk von Huffington Post, Bento, Süddeutscher und Christian Pfeiffer befasste sich in der verstrichenen Woche in einer „kleinteiligen Recherche“ (Spiegel) mit der Frage, was hinter der angeblich so stark angestiegenen Delinquenz kürzlich zugewanderter junger Männer steckt. Nicht toxische Männlichkeit, wie Sie vielleicht meinen. Sondern: Statistik. Denn Max, das könnte Deutschlands bekanntester Kriminalastologe Pfeiffer jederzeit beweisen, wenn er endlich einmal die Rohdaten seiner Studienstudien vorlegen würde, Max wird deutlich seltener angezeigt als Mehemet. Obwohl sich Max natürlich genau so viele Streiche erlaubt wie der morgenländische Moritz. Das ist ja gerade der Witz dabei.

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In Berlin wiederum geht alles seinen Gang bei der allgemeinen Zerrüttung von Urbanität und Zivilisation, zu Silvester gab es allein 57 Angriffe auf Feuerwehrleute und Rettungssanitäter, davon auch einmal mit einer scharfen Waffe von Max und Moritz. Kürzlich interviewte eine Zeitung die Chefin der Berliner Linkspartei Katina Schubert, sie sprach etwas mäandernd über die Erfolge der rot-rot-grünen Stadtregierung unter anderen bei der Wohnraumverknappung. Eine Antwort schoss ihr allerdings aus dem Mund wie die Kugel einer Makarov, nämlich die Antwort auf die Frage: „Sollten die Bierbikes verboten werden?“

Schubert: „Von mir aus sofort.“

Man kann über linke und linksextreme Politiker sagen, was man will: Ihr Gespür dafür ist hochsensibel, wer zu ihrem Milieu gehört und wer nicht. Um zu wissen, dass Männer auf Bierbikes nicht Linkspartei wählen, brauche ich keine evidenzgesättigte Pfeifferstudie. Sie auch nicht.

Aus der Berliner Haftanstalt Plötzensee sind übrigens Insassen entwichen, neun oder neunzig, wer weiß das schon genau. Justizsenator Dirk Behrendt will nun die irgendwie leicht durchsägbaren Wände verstärken.

Immerhin fällt demnächst das Bierbike als Fluchtmobil weg.

Es stellt sich allerdings die Frage: warum sind nicht alle in Plötzensee Verwahrte zum Spontanausgang aufgebrochen? Offenbar ist in der Stadt doch nicht genügend los. Manchen wird es auf den Straßen ihres Viertels inmitten von nicht abgeholtem Sperr- und Silvestermüll auch schlicht zu dreckig sein.

Der Justizsenator jedenfalls will bleiben, obwohl er jederzeit gehen könnte, das verbindet ihn mit der Mehrzahl der Häftlinge in Berlin.

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Zum Wochenabschluss gehen auch die in Deutschland beliebten Koalitionsverhandlungen wieder los.

„Wenn das nichts wird“, sagte Martin Schulz Medien zufolge zu Horst Seehofer, „dann ist meine Karriere beendet.“

Wohl dem, der beizeiten eine Drohung aussprechen kann.

14 Kommentare
  • oldman
    7. Januar, 2018

    «Es gibt zu viele Menschen, …die nicht mit dem Tempo unserer Zeit mitkommen. Die sich sorgen, dass es zu viel Kriminalität und Gewalt gibt“.»
    Ich muss mich hier outen : ich gehöre dazu. Wer mit diesem galoppierenden Irrsinn nicht Schritt halten will und kann, der hat in meinen Augen kein Defizit, im Gegenteil. Realisten aller Gruppen vereinigt euch !

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    • gero O G R
      7. Januar, 2018

      Je mehr Veränderung in möglichst kurzer Zeit desto intensiver der Fortschritt. Einfache Formel die auch viele Leute gut finden. Wer die Formel nicht versteht hat Glück. Er darf darüber nachdenken was wohl Fortschritt ist.

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    • Susanne
      7. Januar, 2018

      #metoo

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  • Schildkröte
    7. Januar, 2018

    Sehr geehrter Herr Wendt, alle Ihre Beiträge lese ich mit Genuss – aber dieser ist Spitze! ich habe bei jedem Satz Tränen gelacht über den punktgenau aufgespießten Irrsinn, obwohl all das Beschriebene zum Heulen ist. Im ehemaligen Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis gibt es nicht mehr viel zu lachen, da offenbar fast alle «linientreu» sind, wie es früher hieß. Ein Beitrag wie dieser tröstet etwas über die neu gewonnene Isolation hinweg. Herzlichen Dank dafür!

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  • Tunturi
    7. Januar, 2018

    Das mit den «stationären» und «mobilen» Frauenschutzzelten haben bestimmt nicht alle kapiert!

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  • Gerhard Klöckers
    7. Januar, 2018

    Sehr geehrter Herr Wendt,

    wie immer ein wahrhaftiger Genuss.

    Herzliche Grüße

    G. Klöckers

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  • Susanne
    7. Januar, 2018

    Und Seehofer antwortete: «Meine auch!»
    Möge Gott das nicht zu verhindern wissen…

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  • Ernst-Fr. Siebert
    8. Januar, 2018

    Diese Namen kann man sich merken: Alexander, Stephan und Michael. Die sind immer gut für einen guten Spruch ;-)) und der Bernd natürlich auch.

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  • Sabine Schönfelder
    8. Januar, 2018

    Jeder einzelne Tag ist, was die Medienpräsenz betrifft, eine Zumutung. Ihr Wochenrückblick ist wie Aspirin gegen die Blödheit, die schon Schmerzen verursacht.
    Eine Merkelansprache kann ich mir nicht antun. Dazu reicht meine Leidensfähigkeit nicht aus. ….aber wenn Merkel die von Ihnen zitierten Worte gesagt hat, und daran gibt es wohl
    keinen Zweifel, ist es schon bemerkenswert was aus einer Kanzlerin, die einst dem Volke
    dienen wollte für eine hochmütige ‘dusslige Kuh’ ( frei nach Alfred Tetzlaff) geworden ist.

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    • ordo ab chao
      9. Januar, 2018

      Immerhin hat die schwerst gestörte Raute des Grauens einen Doktor in Marxismus-Leninismus, hört man doch aus jeder Silbe ihres Gestammels… 😉

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      • ordo ab chao
        9. Januar, 2018

        Doktorvater war übrigens Stasi Mielke himself! konnte doch der kleinen IM Erika, als Havermann spitzen Spitzelin keinen Wunsch abschlagen. «Honecker`s Rache» kommt ja nicht von ungefähr!

        es klingelt Sturm, werd ich jetzt abgeholt?! nein, nicht, aahhhh, ich liebe euch doch alle meine sehr geehrten Schergen…. 😉

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    • Wieland Schmied
      11. Januar, 2018

      Kann Ihnen ja beinahe in Gänze zustimmen, nur sollten Sie die armen Kühe mit dem Vergleich zur Kanzlerin nicht bodenlos abwerten. Die armen Rindviecher tun Tag für Tag in diesem Lande und andernorts auf dem Globus so viel Gutes und bekommen selten selbiges zurück.
      Im Gegensatz zu Ihrer Hochwohlgeborenen Dusseligkeit.

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  • Andreas Dumm
    9. Januar, 2018

    Ein genialer Text, der einer Art von teilnehmender Beobachtung auf dem Felde des alltäglich gewordenen Wahnsinns zu entspringen scheint. Als Untertitel schlage ich «inside imbecility» vor.

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  • Großer Bruder
    14. Januar, 2018

    «Es gibt zu viele Menschen, …die nicht mit dem Tempo unserer Zeit mitkommen. Die sich sorgen, dass es zu viel Kriminalität und Gewalt gibt“.”

    Dieser Satz enthält ja neben der Unterstellung, daß Menschen, die nicht Frau Merkels Weltsicht teilen, beschränkt sind, noch eine ganz andere unglaubliche Unverschämtheit: die Behauptung, daß es gar nicht zu viel Kriminalität und Gewalt gibt, und daß unter einer Fehlwahrnehmung leide, wer diesen Eindruck hat.
    Und nebenbei offenbart Frau Merkel auch noch, daß es, wenn es ein «zu viel» an Kriminalität und Gewalt gibt, es ihrer Meinung nach also auch gewisses Maß an Gewalt «normal» sei.

    3 Zumutungen in einem Satz unterzubringen, das ist auch bei der heutzutage in dieser Hinsicht hochliegenden Latte eine tolle Leistung.

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Original: Der Wochenrückblick: Toxische Männlichkeit auf dem Bierbike

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